„Das wirkliche Leben“ von Adeline Dieudonné

Klappentext

Eine Reihenhaussiedlung, wie es viele gibt. Am Waldrand wohnt eine vierköpfige Familie, im schönsten und hellsten Haus. Ein Stück heile Welt, könnte man meinen. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters: Neben TV und Whisky liebt er den Rausch der Jagd. Da er für eine Großwildsafari aber selten das Geld hat, befriedigt er seine Gier nach Macht meistens in den eignen vier Wänden. In einer solchen Atmosphäre aufzuwachsen ist nicht leicht. Darum tut das Mädchen alles, damit sich ihr kleiner Bruder zumindest sein Lachen bewahrt. Tagsüber geht sie mit ihm zum Autofriedhof spielen und abends zum Eiswagen, der mit Tschaikowskis „Blumenwalzer“ sein Kommen ankündigt. Bis eines Tages vor ihren Augen eine Tragödie passiert …

∗∗∗∗∗

„<Zu gewissen Menschen hält man besser Abstand. Das werdet ihr noch lernen>, erklärte sie . <Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am fliegen zu hindern.>“ (Seite 19)

 Dieses Buch hatte ich so gar nicht auf dem Schirm. Erst als es vermehrt in der Buchhandlung nachgefragt wurde und mir Kunden*innen erzählten dass dies ein Wahnsinns Buch sei. Ich hab dann ein paar Exemplare für die Buchhandlung eingekauft und als geliefert wurde mir sofort eins geschnappt und rein gelesen.

Die Protagonisten, hier immer nur das Mädchen genannt, ist sehr beeindruckend. Die Geschichte beginnt als das Mädchen 10 Jahre alt ist. An einem Sommertag geschieht ein Unglück, dass ihrem 6jährigen Bruder das Lachen nimmt. Fortan möchte das Mädchen unbedingt eine Zeitmaschine bauen, um die Zeit vor diesem Unglück zurück zu holen und somit das Lachen ihres Bruders, dass sie so sehr geliebt hat. Da sie schon immer Interesse an Physik hatte informiert sie sich jetzt noch mehr, nimmt sogar zusätzlichen Unterricht bei einem Professor. Doch die Zeit rennt und mit jedem Tag mehr muss sie zusehen wie ihr Bruder sich in seine eigene Welt zurück zieht. In eine Welt in der es um Tierquälerei und Bösartigkeit geht.

Parallel dazu muss sie immer wieder mit ansehen wie der Vater die Mutter schlägt und sogar eines Tages das Leben seiner Kinder aufs Spiel setzt. Doch eines Tages, ein paar Jahre später passiert ein weiteres Unglück …

Dieses Buch macht atemlos. Man fängt an zu lesen und gerät in einen Strudel aus Unglück, Horror, Tierquälerei und körperlicher sowie häuslicher Gewalt. An vielen Stellen konnte ich nicht weiter lesen, weil ich schockiert war, und wollte doch weiter lesen, weil ich wissen musste was mit dem Mädchen und ihrem Bruder geschieht. Dieudonné erzählt mit eine bildhaften Sprachgewalt, die mich als Leserin  ganz nah an das Geschehen heran holt.

Und dann ist da noch dieses Mädchen, ein Kind am Anfang, dass nicht zulassen will, dass ein Ereignis das weitere Leben beherrscht. Ein Mädchen dass alles daran setzt um endlich aus der Opferrolle heraus zu kommen um ein Leben zu leben, in dem sie sich die Dinge bewahren kann die sie sich bewahren möchte.

Absolute Leseempfehlung jedoch mit dem Hinweis, dass es an manchen Stellen echt sehr brutal und blutig sind.

 „Wenn das Gebrüll dazu nicht reichte, nahm mein Vater noch die Hände zu Hilfe. Bis auch das letzte bisschen Wut aus ihm heraus war. Am Ende fand sich meine Mutter immer am Boden wieder, reglos und schlaff wie ein leerer Kissenbezug. Danach wussten wir, hatten wir wieder ein paar Wochen Ruhe.“ (Seite 34/35)


dtv Verlagsgesellschaft * Fester Einband * 240 Seiten * Erscheinungsdatum: 24.04.2020 * ISBN: 9783423282130 * Preis: 18,00 Euro * Hier kaufen *

 

„Scham“ von Inès Bayard

Zsolnay Paul
Fester Einband
224 Seiten
Erscheinungsdatum:
17.02.2020
ISBN: 9783552059764
Preis: 22,00 Euro

Klappentext

Maries Leben ist perfekt. Sie ist jung und erfolgreich, ihr Mann ist Anwalt, jetzt wollen die beiden ein Kind. Da passiert das Unfassbare. Marie wird von ihrem Chef auf dem Heimweg brutal vergewaltigt. Und er setzt sie so unter Druck, dass sie niemandem, nicht einmal ihrem Mann, davon erzählt.

Triggerwarnung: Sexuelle Gewalt/ Vergewaltigung!

 Marie ist jung und genießt das Leben. Ihr macht der Beruf Spaß und auch ihre läuft super. Das Paar beschließt einen Schritt weiter zu gehen, und möchte eine Kind. In dieser Lebensphase wird Marie eines Tages auf dem Weg nach Hause von ihrem Chef brutal vergewaltigt. Mit letzter Kraft schleppt sie sich nach Hause und versucht mit dieser Tat klar zu kommen. Sie verschweigt sie, sagt ihrem Mann nichts davon, zeigt ihren Peiniger nicht an. Dann ist Marie plötzlich schwanger und es stellt sich die Frage von wem ist dieses Kind und wie kann das Leben von Marie mit dieser Scham weiter gehen …

Direkt zu Anfang erfahre ich, wie das Buch enden wird. Daher verrate ich nicht zu viel, wenn ich schreibe, dass Marie das Kind, ihren Mann und sich tötet. Doch wie kommt es dazu? Das erarbeitet Inès Bayard schrittweise. Angefangen bei der brutalen Vergewaltigung durch den Chef, Maries Scham und dem Nichterzählen. Weder ihrem Mann noch einer Freundin vertraut sie sich an. Auch als sie erfährt das sie schwanger ist, hat sie immer noch die Möglichkeit es dem Frauenarzt zu sagen, doch Marie schweigt. Ihr Umfeld bekommt nicht mit, was ihr passiert ist. Und das ist ein Punkt, den ich einfach nicht glauben und verstehen konnte, obwohl Bayard es sehr plausibel darstellt. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, das ihr Mann nichts bemerkt hat. Ehrlich, mein Partner muss der spüren, dass irgendetwas nicht stimmt. Oder mein Umfeld. So wie Marie sich verhalten hat, hätte jemand etwas merken müssen!

Diese Buch hat mich an so vielen Stellen wütend gemacht, traurig und fassungslos. Mir hat Marie so leid getan, weil sie so sehr in ihrer Scham gefangen war. Schlimm fand ich, als sie dann vom Opfer zur Täterin wurde. Aber sie sah einfach keinen anderen Ausweg, als alle zu töten.

Das ist keine leichte Lektüre, weil sie wirklich teilweise sehr brutal und detailliert ist. Bayard zwingt mich als Leserin, all das zu durchleiden, was Marie erleiden muss . An vielen Stellen musste ich das Buch weg legen, weil ich es nicht mehr aushalten konnte, was Marie passiert, weil ich mit ihr gelitten habe. Und doch muss man hinschauen! Denn sexuelle Gewalt, egal ob Vergewaltigung oder in einer anderen Form, geschieht tagtäglich in dieser Welt. Darum ist es wichtig hinzuschauen, hinzuhören und zu helfen. Auch wenn es erst einmal vielleicht nur eine Vermutung ist, aber vielleicht hilft es dem Gegenüber seine Scham zu überwinden!

 

 

 

 

 

„Wild Game“ von Adrienne Brodeur

Droemer
Fester Einband
272 Seiten
Erscheinungsdatum:
01.04.2020
ISBN: 9783426278178
Preis: 18,00 Euro

Klappentext

Adrienne hat eine umwerfende, strahlende Mutter, die der Mittelpunkt einer jeden Gesellschaft ist. Malabar ist eine begnadete Köchin und verzaubert jeden mit ihrem Charme – doch sie auch eine große Egozentrikerin. Als sie sich in den besten Freund ihres Mannes verliebt, macht sie ihre vierzehnjährige Tochter zu ihrer engsten Vertrauten und stellt auf diese Weise das Mutter-Tochter-Verhältnis auf den Kopf. Bald schon lebt Adrienne ganz für die aufregende Liebesgeschichte ihrer Mutter, statt ihre eigene Jugend auszukosten. Ihr erscheint es als einzige Chance, vom Malabar endlich wirklich wahr genommen zu werden. Schließlich verstrickt sie sich so sehr in das Spiel ihrer Mutter, dass sie voll und ganz den Boden unter den Füßen zu verlieren droht. Erst als erwachsene Frau ist sie in der Lage, die Muster zu erkennen, die ihr Leben geprägt haben, und es gelingt ihr, sich mit ihrer Mutter auszusöhnen.

∗∗∗∗∗

„Eine verborgene Wahrheit, mehr ist eine Lüge nicht.“ (Seite 11)

Es ist ein Sommer Ende der 70ziger Jahre, der Adriennes Leben komplett verändern wird. Die Familie macht wie jedes Jahr Urlaub im Ferienhaus auf Cape Code. Freunde der Familie sind immer sehr willkommen und Malabar, Adriennes Mutter liebt es die Gäste zu verwöhnen. Auch in diesem Sommer sind Gäste auf Cape Code. Ben, der beste Freund von Adriennes Stiefvater, ist mit seiner Frau Lily zu Besuch. Die Familien genießen die Ferienzeit. Adrienne ist gerade 14 und erlebt die ersten zarten Bande des Verliebtseins.

Nach einer feuchtfröhlichen Party wird Adrienne mitten in der Nacht von ihrer Mutter geweckt. Sie erzählt aufgeregt ihrer 14jährigen Tochter das Ben, der Freund des Vaters sie geküsst hat. Malabar ist total aus dem Häuschen und schwärmt Adrienne von Ben und diesem Kuss vor. Malabar forder allerdings von Adrienne absolutes Stillschweigen. Sie darf niemandem etwas davon erzählen.

„Blinzle noch einmal, und dir wird klar, dass die Wahrheit, die du für gut verborgen gehalten hattest, ans Licht gekommen ist, dass sich unter veränderten Bedingungen, irgendein unansehnliches Teil davon offenbart hat. Wir alle wissen, dass eine Lüge oft weitere Lügen nach sich zieht. Täuschung erfordert Einsatz, Wachsamkeit und ein sehr gutes Gedächtnis. Man muss sich anstrengen, wenn man will, dass die Wahrheit verborgen bleibt.“ (Seite 11)

Aus diesem Kuss wird eine Affäre, in der Adrienne immer wieder gezwungen ist zu lügen. Sie muss ihr ganzes Umfeld an- und belügen. Zuerst fällt es ihr sehr schwer, ihren Stiefvater und auch Lily zu belügen. Doch andererseits ist das die Chance endlich der unnahbaren Malabar nahe zu sein. Als Komplizin, als Eingeweihte, als Vertraute … denn das ist etwas, was sich Adrienne immer von ihrer Mutter gewünscht hat. Nähe, Liebe, Vertrauen … all das hat sie jetzt, das Malabar sie in ihr Geheimnis eingeweiht hat.

Adrienne hat mit 14 Jahren noch keine Ahnung, welche Auswirkung dieses Geheimnis auf ihr Leben haben wird. Erst als erwachsene Frau schafft sie es, sich aus dieser „Verbindung“ zu lösen und ein eigenes Leben zu leben ….

„Ich wusste immer, was meiner Mutter gefiel, aber einen moralischen Kompass hatte ich nicht. Es sollte Jahre dauern, bis ich verstand, was sie geprägt hatte und was mich, und welchen Schmerz wir verursachten. Damals wusste ich nur, dass ich mich am meisten geliebt fühlte, wenn ich meine Mutter glücklich machte, und zu diesem Zweck war mir jedes Mittel recht.“ (Seite 55)

Was für ein unglaubliches Buch!!! Es ist der biografische Roman der Autorin Adrienne Brodeur, in dem sie über die toxische und zerstörerische Beziehung zu ihrer Mutter berichtet. An vielen Stellen war ich erschrocken und schockiert, wie Malabar ihrer Tochter für ihren Vorteil benutzt und manipuliert. Wie sie die Abhängigkeit eines Kindes von seiner Mutter für ihre Zwecke missbraucht … einfach unglaublich.

Aber erst einmal von vorne. In der Nacht, in der Malabar Adrienne vom Kuss erzählt, macht sie ihrer Tochter zur Mitwisserin und Komplizin. Adrienne findet es toll, das ihre auch so phantastische Mutter sie endlich beachtet und zur Vertrauten macht. Doch mit dem anvertrauen des Geheimnisse ist es nicht getan. Fortan muss Adrienne ihr Umfeld belügen, um Ben und Malabar zu decken, ihnen Freiräume zu schaffen usw. Das geht über zig Jahre so. Adriennes Welt ist die ihrer Mutter und deren Affäre mit Ben. Adriennes Leben bleibt auf der Strecke.

Als Adrienne irgendwann erkennt, dass ihre Mutter sie all die Jahre nur benutzt hat, zerbricht vieles in ihr … sie wird magersüchtig … depressiv …

„Natürlich war ich noch immer Malabars Tochter. Ich wusste, dass ich sie nie im Stich lassen würde – wenn sie anrief, würde ich drangehen, bis zum Ende – , aber ich wusste auch, dass ich mich aus ihrem Griff befreit hatte. Wir waren nicht, wie ich als Heranwachsende geglaubt hatte, zwei Hälften eines Ganzen. Sie war ein eigener Mensch, genau wie ich. Und jedes Mal, wenn ich es schaffte, nicht so zu sein wie sie, wurde ich mehr ich selbst.“ (Seite 263)

Dieses Buch hat mich sehr lange beschäftigt und jetzt, wo ich diese Rezension schreibe kommt vieles wieder hoch. Der Narzissmus dieser Mutter ist einfach unglaublich. Sie zerstört ja nicht nur ihr Leben, sonder das ihres gesamten Umfelds, insbesondere das ihrer Tochter. Ich glaube Adrienne Brodeur hat dieses Buch gebraucht, um sich ein weiteres Stück aus der toxischen Abhängigkeit zu ihrer Mutter zu lösen. Ich wünsche ihr sehr, dass sie ihren Weg und ihren Platz im Leben findet.

Absolute Leseempfehlung!!!

 

 

 

 

„Der Sommer, in dem Einstein verschwand“ von Marie Hermanson

Insel Verlag
Fester Einband
371 Seiten
Erscheinungsdatum:
08.03.2020
ISBN: 9783458178460
Preis: 22,00 Euro

Klappentext

Göteborg im Sommer 1923:

Die Stadt feiert ihr dreihunderjähriges Gründungsjubiläum mit einer großen Ausstellung, und über der gesamten Stadt hängt eine magische Atmosphäre. Die Journalistin Ellen ergattert ihren ersten Job bei der Zeitung der Ausstellung, sie wird als Reporterin den Trubel und die Aufregung einfangen. Dabei begegnet ihr neben dem liebenswerten Eseljungen Otto auch der Polizist Nils Gunnarsson – den sie um Hilfe bittet, als sie eines Nachts eine alarmierende Entdeckung macht.

Zur gleichen Zeit sitz Albert Einstein in seinem Berliner Arbeitszimmer. Sein Privatleben steht kopf, seine Finanzen sind miserabel und er erhält Morddrohungen aus rechten Kreisen. Und ausgerechnet jetzt muss er nach Göteborg reisen, um seine Nobelpreisrede zu halten. Doch es gibt ungeahnte Kräfte, die diese Rede um jeden Preis verhindern wollen …

∗∗∗∗∗

Die Geschichte wird von vier verschiedenen Personen aus ihrer Sicht geschildert. Da ist einmal Otto, ein Junge, der in ärmlichen Verhältnissen lebt, und die Chance erhält mir seinem Esel eine Attraktion auf der großen Jubiläumsfeier zu werden. Ellen ist eine junge Frau, die auf Biegen und Brechen Journalistin werden möchte. Und das aber nicht bei irgendeiner Zeitung, nein, es muss die Zeitung sein, die exklusiv über die Feierlichkeiten und dem Drumherum berichtet. Mit ihrer außergewöhnlichen Berichtserstattung gelingt es ihr, den Job zu bekommen. Nils ist Polizist und trifft in der Geschichte auf Ellen, die seine Hilfe benötigt und später im Buch braucht er ihre Hilfe. Und zu guter Letzt ist da auch noch Einstein, der zu Wort kommt.

Als Leserin erfahre ich viele Dinge und Geschichtliches aus der Zeit 1923 und dem Gründungsjubiläum von Göteborg. Das hat mir sehr gut gefallen, vor allem weil es die Autorin auch schafft, diese ganz besondere Stimmung dieser Jubiläumsfeier in Worten einzufangen. Man spürt so ein bisschen die Magie der Ausstellung, das Gewusel der Menschen und deren Freude daran teilnehmen zu dürfen.

Neben diesem ganzen Jubiläumsgewusel ist dann da noch Einsteins Geschichte und ich muss gestehen, mir waren viele Dinge gar nicht bewusst. Mir ist Einstein natürlich durch seine Relativitätstheorie bekannt und seine Frauengeschichten, aber ich wusste zum Beispiel nicht, dass seine Relativitätstheorie so umstritten war, und er dafür auch gar nicht den Nobelpreis bekam. Und das man ihn verfolgt und ermorden wollte. Dies macht sich die Autorin zu Nutze und spinnt darum eine kleine kriminalistische Story um Einstein und seiner Reise nach Göteborg.

Mir hat die ganze Geschichte um Göteborg und Einstein sehr gut gefallen. Diese Mischung aus Fiktion und Wahrheit machen dieses Buch absolut lesenswert und unterhaltsam!

 

„Die Optimisten“ von Rebecca Makkai

Eisele Verlag
Fester Einband
624 Seiten
Erscheinungsdatum:
30.03.2020
ISBN: 9783961610778
Preis: 24,00 Euro

Klappentext

Chicago, 1985:

Yale ist ein junger Kunstexperte, der mit Feuereifer nach Neuerwerbungen für seine Galerie sucht. Gerade ist er einer Gemäldesammlung auf der Spur, die seiner Karriere den entscheidenden Schub verleihen könnte. Gleichzeitig muss er miterleben, wie ein Virus, das gerade in Chicagos Boystown zu wüten begonnen hat, einen nach dem anderen seiner Freunde in den Abgrund reißt.

Paris, 2015:

Fiona reist ihrer untergetauchten Tochter nach. Die Suche nach ihr gestaltet sich ebenso zu einer Reise in die eigene Vergangenheit, denn in Paris trifft sie auf alte Freunde aus Chicago, die sie an das Gefühlschaos der Achtzigerjahre erinnern und mit einem großen Schmerz von damals konfrontieren, den sie nie verwunden hat.

∗∗∗∗∗

„Wir waren die großen Optimisten. Nie war jemand meinem Herzen näher als diejenigen, die den ersten Frühling spürten, als auch ich es tat, und dem Tod ins Gesicht sahen und verschont wurden – und die nun durch den langen stürmischen Sommer ziehen.“ (F. Scott Fitzgerald, My Genration)

Das Buch ist in zwei Erzählzeiten aufgeteilt, die abwechselnd erzählt werden. Der erste Geschichte beginnt 1985 und bewegt sich im Buch auch weiter bis 1989. Eine Zeit in der das Aids-Virus anfängt um sich zu greifen. So fängt auch die Geschichte mit einer Trauerfeier an, auf der ein junger Mann beigesetzt wird. Natürlich sind die Freunde geschockt, dass einer von ihnen an Aids verstorben ist. Und doch leben sie weiterhin ihr unbeschwertes Leben, blenden den Virus aus. So auch Yale und Charlie. Sie sind ein Paar. Während Yale allen Versuchungen widersteht, lässt sich Charlie auf eine kurze Affäre ein, die nicht ohne Folgen für ihn bleibt. Und Yale, ist auch er infiziert?

„Es war nicht der Betrug, der ihm am meisten zusetzte. Das buchstabierte er im Geiste deutlich aus, sagte es in Gedanken in sein Glas hinein, zu den schmelzemden Eiswürfeln. Und es war auch nicht nur die Krankheit, die Ansteckungsgefahr, auch wenn das die wichtigste Rolle spielte. Was sich ihm im Augenblick regelrecht ins Herz schraubte, war die Tatsache, dass er sich von Charlies Forderungen so hatte einschüchtern lassen. Er war für diesen Mann wie auf Eiern gegangen, und währenddessen hatte Charlie hinter seinem Rücken, die Eier einfach an die Wand geschmissen. Mehr als alle andere kam Yale sich bescheuert vor.“ (Seite 268/269)

Die zweite Zeitebene spielt 2015 und bleibt auch dort. Fiona, die bereits im ersten Zeitstreifen als 25jährige auftaucht, sucht in Paris ihre Tochter. Sie hat seit Jahren nichts von ihr gehört und vermutet, dass sie in einer Sekte lebt. In Paris trifft Fiona auf Menschen aus den 80zigern, die das Virus überlebt haben und aus Amerika weg gingen. Während ihres Aufenthalts in Paris passiert ein Anschlag und die Angst um ihre Tochter wächst.

„Das ist der Unterschied zwischen Optimismus und Naivität. Keiner hier im Raum ist naiv. Naive Menschen haben noch keine echte Prüfung hinter sich, deshalb meinen sie, ihnen könnte nichts passieren. Optimisten wie wir haben schon etwas durchgemacht und stehen trotzdem jeden Tag auf, weil wir glauben, wir könnten verhindern, dass es noch einmal passiert. Oder wir tricksen uns einfach aus, um das zu glauben.“ (Seite 511)

Ihr wisst, ich bin kein Fan von dicken Büchern, aber durch dieses Buch bin ich geflogen. Die beiden Erzählstränge haben mich einfach immer am Buch gehalten. Die Geschichte in den 80zigern, um Charlie, Yale und ihre Freunde ist einfach phantastisch geschrieben. Man spürt mit jedem Wort das unbeschwerte Leben, dass diese jungen Leute trotz Aids versucht haben zu leben. Trotz der Ansteckung und dem möglichen Tod, denn vielen von ihnen war zu Anfang nicht bewusst welche drastischen Folgen dieses Virus hat. Und die Beschreibungen Makkais über die Todgeweihten ist wirklich beängstigend. Und irgendwie bangt man bei den Protagonisten mit, dass es sie bitte bloß nicht erwischt.

In der gleichen Zeit ist aber auch eine besondere Kunstszene entstanden. Und hier spielt die Figur von Yale eine weitere besondere Rolle, die mich fasziniert hat. Yale ist dabei eine Galerie zu eröffnen und hat die Möglichkeit an verschollene Bilder zu kommen. Hier erfahre ich, wie aufwendig es ist Expertisen und Gutachten für verschollene Bilder bekannter Künstler erstellen zu lassen.

Im Erzählstrang 2015 spielt Fiona eine große Rolle. Was mir hier sehr gut gefallen hat, ist das Fiona das Bindeglied zu den 80zigern und den 2000nern ist. Fiona trifft einige der Männer aus den 80zigern wieder und erinnert sich gemeinsam mit ihnen an diese verrückte Zeit. Während ihrer Such nach der Tochter, passieren die Novemberattentate in Paris.

„Jeder weiß, wie kurz das Leben ist.(…) Aber niemand spricht je davon, wie lang es ist. Dabei – also, ich weiß es nicht, ob das Sinn ergibt, aber jedes Leben ist zu kurz, selbst ein langes, und trotzdem ist das Leben ,mancher Menschen auch zu lang.“ (Seite 590)

Für mich ist dieses Buch eine Bereicherung. Mir hat die Vielschichtigkeit der Themen gefallen. Es geht um Liebe, Verlust, Verrat … um Hoffnung und Kämpfen … ums Miteinander und Füreinander, und dabei wird es kein bisschen kitschig oder trivial.

Einfach grandios! Unbedingt lesen!!!

„Wenn wir am selben Ort und zur selben Zeit auf der Welt sein könnten wie alle, die wir lieben, wenn wir zusammen geboren werden und sterben könnten, wäre alles so einfach. Und das ist es nun mal nicht.“ (Seite 590)

 

 

 

 

„Dankbarkeiten“ von Delphine de Vigan

DuMont Buchverlag
Fester Einband
176 Seiten
Erscheinungsdatum:
17.04.2020
ISBN: 9783832181123
Preis: 20,00 Euro

Klappentext

Michka, die stets ein unabhängiges Leben geführt hat, muss feststellen, dass sie nicht mehr allein leben kann. Geplagt von Albträumen glaubt sie ständig, wichtige Dinge zu verlieren. Tatsächlich verliert sie nach und nach Wörter, findet die richtigen nicht mehr und ersetzt sie durch ähnlich klingende. Die junge Marie, die Michka früher versorgt hat, bringt sie in einem Seniorenheim unter. Der alten Frau fällt es schwer, sich in der neuen Ordnung einzufinden. In hellen Momenten leidet sie unter dem Verlust ihrer Selbstständigkeit. Die Enge und Monotonie ihres neuen Lebens stehen im kompletten Gegensatz zu ihrem früheren Dasein, das von Offenheit und regem Austausch bestimmt war. Ihr einziger Lichtblick sind Marie und der junge Logopäde Jérôme, der sie regelmäßig aufsucht. Beide kümmern sich liebevoll um sie. Michka wiederum zeigt beiden immer wieder, wie wichtig der Kontakt zu Menschen ist, wie sehr man Zuneigung und tiefes Verständnis braucht, ganz egal wie alt man ist. Doch was sie am meisten beschäftigt, ist die bisher vergebliche Suche nach einem Ehepaar, dem sie ihr Leben zu verdanken hat. Daher gibt Marie eine Suchanzeige auf, und Michka hofft, ihre tiefe Dankbarkeit endlich übermitteln zu können, bevor es zu spät ist.

∗∗∗∗∗

„Und statt mir zu sagen, lass mich in Frieden, geh irgendwo was auf mein Wohl trinken und tanz auf den Tischen, antwortet sie sehr entgegenkommend auf jede meiner Fragen. Sie gibt sich Mühe, sucht nach den Wörtern. Wenn ich auflege, ist es meine eigene Hilflosigkeit, die mich überfällt und mir die Sprache raubt.“ (Seite 32)

Michka hat keine Familie und dennoch ist sie nicht allein. Da ist Marie, die kümmert sich um die alte Dame, auch als diese nicht mehr weiterhin allein in ihrer Wohnung verbleiben kann. Michka ist alt und viele Dinge fallen ihr immer schwerer. Vor allem das Behalten von Dingen und Wörtern. Sie zieht in eine Seniorenheim, was Michka so gar nicht gefällt, da sie ihre Unabhängigkeit nicht verlieren möchte. In dem Heim kümmert sich eine weitere Person, Jérôme, um sie. Doch Michka verzweifelt, denn sie macht sich mehr und mehr Gedanken darüber, ob sie den Menschen in ihrem Leben genügend gedankt hat. Vor allem einem Ehepaar möchte sie auf jeden Fall noch einmal in ihrem Leben besonders bedanken.

„Man glaubt immer, man hätte noch genug Zeit, die Dinge zu sagen, und dann ist es plötzlich zu spät. Man glaubt, es würde reichen, wenn man es zeigt, herumgestikuliert, aber das stimmt nicht, man muss es sagen. Sagen, dieses Wort, das Sie so sehr lieben. Wörter sind wichtig, aber Ihnen brauche ich das ja nicht zu sagen.“ (Seite 152)

Dieses Buch von Daphne de Vigan beschäftigt sich mit drei Hauptthemen. Dem Älter werden und dem damit verbundenen Verfall, geistig wie auch körperlich, Dankbarkeit und einer Erkrankung, die sich Aphasie nennt.

Auf den ersten Seiten habe ich gedacht, oh man, ist das Buch schlecht lektoriert. Bis ich mal auf die Idee kam, dass dies so gewollt ist, denn die Protagonistin Michka leidet an Aphasie. Das ist eine Erkrankung bei der man Wörter vergisst und diese durch gleichlautende während eines Gespräches ersetzt. Beim Lesen ergibt dass manches Mal einen ganz schönen Kuddelmuddel. Aber man gewöhnt sich daran, je weiter die Geschichte voran geht. Ich persönlich kann diese Erkrankung nicht und fand es sehr informativ, was ich darüber erfahren habe.

Es geht in der Geschichte um Michka aber auch um das Älter werden und was es für Michka bedeutet immer mehr ihrer Selbständigkeit zu verlieren. De Vigan hat diese Szenen sehr einfühlsam ja fast liebevoll beschrieben.

Und dann geht es natürlich, wie schon der Titel sagt, um Dankbarkeit. Es stellt sich die Frage sind wir eigentlich dankbar genug in unserem Leben? Sagen wir den Menschen die für uns da sind, die wir lieben oft genug DANKE? Aber es ist nicht nur diese Art der Dankbarkeit, die wir schätzen und unserem Gegenüber mitteilen sollten. Es geht auch um das Dankbarsein von Dingen, für den schönen Tag, die Sonne, die Blumen, das schöne und gute Leben … für all das tolle das wir jeden Tag erleben dürfen. Denn was kann uns glücklicher machen, als DANKBAR zu sein für dieses Leben, das wir haben!

DANKE liebe Daphne de Vigan für dieses kleine wundervolle Buch♥♥♥

 

 

 

„Das Haus der Frauen“ von Laetitia Colombani

S. Fischer
Fester Einband
256 Seiten
Erscheinungsdatum:
26.02.2020
ISBN: 9783103900033
Preis: 20,00 Euro

Klappentext

Solène ist Staranwältin in Paris. Als sich ein Mandant nach verlorenem Prozess vor ihren Augen in den Tod stürzt, bricht sie zusammen. Halt findet sie im Haus der Frauen, in dem Frauen in Not Zuflucht finden. Sie wird zur Briefschreiberin. Mit jedem Brief, den sie im Auftrag der Bewohnerinnen schreibt, wächst nicht nur ihr Mitgefühl für die verschiedenen Schicksale, sondern auch ihr Interesse an der heldenhaften Blanche Peyron, die 1926 allen Widerständen zum Trotz den „Palais de la Femme“ in Paris begründete.

∗∗∗∗∗

„Solène ist genau das: ein kleiner aus dem Nest gefallener Vogel, der versucht, einen Brand zu löschen. Ihr Handeln ist unbedeutend, nicht der Rede wert-lächerlich, wie man sagen würde. Aber sie leistet ihren Beitrag.“ (Seite 158)

Solène arbeitet seit Jahren erfolgreich als Anwältin. Als sich jedoch ein Mandant nach einem verlorenen Prozess vor ihren Augen selbst tötet, stürzt sie das in eine tiefe Krise. Sie hat keine Perspektive mehr, alles erscheint ihr sinnlos und leer. Ihr Therapeut schlägt ihr vor ehrenamtlich zu arbeiten. Menschen zu helfen. Zuerst verweigert Solène sich dieser Idee, ist es doch sie selbst, die Hilfe braucht. Doch sie geht in den „Palais de la Femme“ und schaut sich die Arbeit an …

„Kindheitsträume zu vergessen ist nicht schwer, man hört einfach auf daran zu denken. Man bedeckt sie mit einem Schleier, so wie man Laken über Möbelstücke wirft, wenn man sein Haus für längere Zeit verlässt.“ (Seite 24)

 1925 … Blanche Roussel arbeitet als junge Frau in der Heilsarmee. Ihr Vision ist es allen Menschen, die in Not geraten sind zu helfen. Sie lernt ihren zukünftigen Mann Albin Peyron in der Armee kennen. Fortan setzen die beiden alles in Bewegung um Bedürftigen zu helfen. 1926 gelingt es den beiden mit Hilfe von Spendengeldern und Eigenleistung das „Palais de la Femme“ zu eröffnen.

„Auf diesem wenige Gramm wiegenden Papier liegt das Gewicht eines Lebens. Die Blätter sind leicht und wiegen doch schwer. Es ist keilen Kleinigkeit, Übermittlerin einer solchen Botschaft zu sein. Solène bedenkt, wie viel Vertrauen Binta ihr entgegengebracht hat, indem sie ihr ihre Geschichte erzählt hat. Dessen muss sie sich als würdig erweisen. Sie weiß noch nicht, wie sie es am besten angeht, aber sie nimmt sich vor, ihrer Pflicht mit all der ihr zur Verfügung stehenden Aufrichtigkeit, Intelligenz und Sensibilität nachzukommen. Sie will die richtigen Worte finden (…)“ (Seite 130/131)

Was für ein wunderbares Buch! Erzählt wir in zwei Zeitebenen. Da ist einmal die Geschichte von Solène, einer erfolgreichen jungen Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Durch den Freitod eines Mandanten stürzt ihre heile Welt ein. Auf den Rat ihres Therapeuten nimmt sie eine ehrenamtliche Tätigkeit auf. Ihre Arbeit im Frauenhaus hilft ihr aus ihrer Krise. Die Geschichten und Schicksale der Frauen dort haben mich sehr berührt. Es sind Schicksale die auch heute noch zig Millionen Frauen erleben müssen und über die niemand ein Wort verliert.

Parallel dazu wird die Geschichte von Blanche Peyron erzählt. Eine Frau, die wirklich gelebt hat, und die so gut wie niemand kennt. Ich habe ihren Namen auf jeden Fall noch nie gehört oder gelesen. Aber diese Frau hat mit ihrem Mann und vielen anderen Helfern etwas großartiges geschaffen. Sie hat das erste Frauenhaus der Welt gegründet und somit einen Zufluchtsort bedürftige Frauen. Hier hat mich die Lebensgeschichte von Blanche sehr berührt. Sie hat bis zu Erschöpfung für die Verwirklichung ihres Traumes gearbeitet. Ihr großer Wunsch war es den Bedürftigen zu helfen.

Laetitia Colombani hat mit ihrem sehr gefühlvollen Roman Blanche Peyron ein kleines Denkmal gesetzt. Aber wie ihr unten lesen könnt, war Blanche das nicht wichtig. Ihr war es wichtig etwas für die Frauen zu tun und das hat sie nachhaltig geschafft!

Danke Blanche Peyron! Danke Laetitia Colombani!

Unbedingt lesen!

„Ihr Körper hat seine letzte Ruhestätte in Saint-Georges gefunden, doch ihre Seele woanders, Albin weiß es. Sie lebt in jedem Winkel des Palastes fort, auf dessen Fluren, in dessen Gemeinschaftssaal, in der Empfangshalle und in den Zimmern. In jeder Frau, die dort lebt, und in allen, die dort in Zukunft leben werden. Ihr Name wird nicht in die Geschichte eingehen. Die Welt wird vergessen, wer Blanche Peyron war. Aber das ist nicht wichtig, sie hat sich nie viel aus Ruhm und Ehre gemacht. Ihr Palast jedoch wird über sie hinaus Bestand haben. Er wird der Zeit und den Jahren trotzen. Er wird der Nachwelt erhalten bleiben. Um nichts anderes ging es ihr.“ (Seite 241/242)

 

 

„Je tiefer das Wasser“ von Katya Apekina

Suhrkamp Verlag
Fester Einband
396 Seiten
Erscheinungsdatum:
17.02.2020
ISBN: 9783518429075
Preis: 24,00 Euro

Klappentext

Nach dem Selbstmordversuch der Mutter geht alles ganz schnell. Edie und Mae müssen nach New York, zu Dennis Lomack: Er ist ihr unbekannter Vater und die Schriftstellerikone einer ganzen Generation. Für Edie bedeutet die neue Umgebung einen unverzeihlichen Verrat, für Mae die langersehnte Möglichkeit der Befreiung. Schnell kommt es zum Bruch. Während die eine einen verzweifelten Rettungsversuch unternimmt, lässt sich die andere ein auf die Zuneigung des Vaters und die Bitte, ihm beim Schreiben seines neuen Romans über die Mutter zu helfen. Alle sind sie getrieben von einer Obsession: verstehen, was zwischen ihnen, was tief in ihnen vor sich geht.

∗∗∗∗∗

„Er fing mit seiner Beziehung zu Marianne an. In der Geschichte gibt es eine lange Tradition von Männern, die jüngere Frauen heiraten: schön und gut. Außerdem war es die Zeit der freien Liebe. Aber wäre Jackson McLean noch am Leben gewesen, wären Marianne und Dennis nie zusammengekommen! Marianne war ein Kind. Dennis protzte, er würde sich um sie kümmern, aber in Wirklichkeit plünderte er sie für sein eigenes Werk aus.“ (Seite 172)

Marianne hat versucht sich umzubringen. Nicht das erste Mal. Nun wird sie in eine Psychiatrische Klinik eingewiesen. Ihre beiden Töchter Edie (16 Jahre) und Mae (14 Jahre) müssen zu ihrem Vater Dennis nach New York. Er hat die Familie vor 12 Jahren verlassen und den Kontakt vollkommen abgebrochen.

Dennis Lomack war ein erfolgreicher Schriftsteller und Marianne seine Muse. Solang sie an seiner Seite war, schrieb er Romane. Dennis lernte Marianne kennen als sie 9 Jahre alt war. Nach dem Tod von Mariannes Vater heiraten die beiden. Zu diesem Zeitpunkt ist Marianne 16 Jahre alt.

„In jenem Frühling war Dad das Einzige, was für mich zählte. Ich wollte ihm nur gefallen. Ich wollte ständig seine Aufmerksamkeit. Wenn seine Gedanken bei Mom waren – und das waren sie oft – , dann wurde ich eben Marianne.

(…)

Ich hatte ein unglaubliches Talent dafür, Dads Muse zu sein. Und ich brauchte nicht viel Fantasie, um mir vorzumachen, dass seine Gefühle für Mom mir galten, weil ich ihre Zweitbesetzung war.“ (Seite 221/222)

Mae sieht ihrer Mutter zu verwechseln ähnlich und Mae fühlt sich von ihrer Mutter eingeengt. Marianne schleppt ihre Tochter überall mit hin, was Mae Kindheit und Jugend sehr belastet. Deshalb genießt sie das neue Leben bei ihrem Vater, weit weg von ihrer einnehmenden Mutter.

Dennis sieht in seiner Tochter Mae die junge Marianne und findet in ihr die Muse aus früheren Zeiten. Und plötzlich fließen wieder die Worte aufs Papier …

„An diesem Nachmittag spürte ich zum ersten Mal … ich weiß nicht, wie ich es genau beschreiben soll. Als mein Kopf in Dads Schoß lag, ballte sich das ganze Glück, das mir gefehlt hatte, in diesem einen Augenblick zusammen. Ich sah zu ihm hoch und war nicht mehr ich selbst. Ich war Mom, aber nicht, wie ich sie kannte. Sie stülpte mir nicht ihre Dunkelheit wie eine Tüte über den Kopf. Nein, es war anders. Ich wurde die Mom, die sie vor vielen Jahren war. Auch Dad spürte es, das merkte ich. Vielleicht hätte der Moment länger gedauert, wenn Edie nicht ständig geredet und Druck gemacht hätte. Sie wollte mich wieder zu der anderen Mutter zurückbringen. Der in der Nervenklinik, die mich gefesselt und geviertelt als Opfer brauchte.“ (Seite 116)

Edie fühlt sich schuldig. Sie denkt, dass sie die Einweisung der Mutter in die Klinik hätte verhindern können. Edie möchte nicht bei ihrem Vater sein und versucht die Schwester zu überreden mit ihr gemeinsam die Mutter aus der Klinik zu holen. Doch Mae fühlt sich wohl beim Vater. Also macht sich Edie allein auf den Weg nach Hause. Doch Marianne will ihre Tochter nicht sehen, fragt mach Mae. Edies Eifersucht flammt wieder auf. Immer will Marianne nur Mae um sich haben und stößt Edie von sich.

„Was Mariannes Tochter allerdings nicht mitbekam und wahrscheinlich nie erfahren wird, was, dass Marianne nach ihrem Besuch immerzu weinte, leise, damit die Schwester es nicht mitkriegte. In diesem Moment begriff ich Mariannes Verhalten – sie folget einem Urinstinkt und wollte ihre Tochter von sich fernhalten und so für ihre Sicherheit sorgen, auch wenn sie dem Mädchen damit das Herz brach.“ (Seite 241)

WOW … was für ein DEBÜT!!! Ich bin immer noch hin und weg. Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich dieses Buch so sehr gefesselt, dass ich es an einem Tag gelesen habe. Die Geschichte hat einen unglaublichen Sog und das obwohl sich Abgründe auftun. Doch von Anfang an …

In kurzen Kapitel lässt die Autorin verschieden Menschen zu Wort kommen. Das sind neben Edie und Mae, Marianne und Dennis, auch Weggefährten der vier. Edie und Mae sind jedoch die Erzähler, die den größten Raum einnehmen. Apekina bedient sich verschiedener stilistischer Mittel, unter anderem Tagebucheinträge, medizinische Berichte etc., welche die Geschichte noch komplexe machen.

Mich hat die Geschichte sehr berührt, aber auch fassungslos gemacht. Da sind zwei Kinder, die um die Liebe der Eltern buhlen. Edie, um die ihrer Mutter und Mae um die ihres Vaters. Und beide werden nur für die eigenen Zwecke der Eltern benutzt. Das hat mich echt fassungslos und wütend gemacht. Was mich dann aber wirklich erschüttert hat, ist wie weit Kinder gehen würden, um die Liebe der Eltern zu bekommen.

Dies ist keine leichte Geschichte und an vielen Stellen tun sich Abgründe auf. Jeder einzelne Protagonist versucht gegen seine inneren Dämonen anzukämpfen. Gegen Wut, Trauer, seelische Verletzungen und Selbstzweifeln … und keinem gelingt es wirklich aus dieser selbstzerstörerischen Spirale auszubrechen.

„Heute kann ich leicht sagen, das ich wünschte, ich wäre netter zu meiner Schwester gewesen, aber damals war mir das noch nicht möglich. Unser Vater hatte mir gerade das Herz gebrochen, unsere Mutter hatte sich gerade umgebracht , und ich hatte mich gerade verbrennen wollen. Ich konnte es mir nicht leisten, großzügig zu sein.“ (Seite 343)

Ein grandioses Debüt, das noch lange nachwirkt! Unbedingt lesen!!!

 

 

 

 

„Klara vergessen“ von Isabelle Autissier

mare
Fester Einband
304 Seiten
Erscheinungsdatum:
04.02.2020
ISBN: 9783866486270
Preis: 24,00 Euro

Klappentext

Murmansk, nördlich des Polarkreises. Zum ersten Mal kehrt Juri, der längst als Ornithologe in Nordamerika lebt, in seine Heimat zurück. Sein Vater Rubin liegt im Sterben, lediglich das Rätsel um Juris Großmutter Klara – eine Wissenschaftlerin zur Zeit Stalins, die vor den Augen des damals vierjährigen Rubin verhaftet wurde – hält ihn am Leben. Klaras Verschwinden und eine Jugend voller Entbehrungen haben aus Rubin einen unerbittlichen Fischer und hartherzigen Vater gemacht, der seinen ungeliebten Sohn nun in einem letzten Aufeinandertreffen um Hilfe bittet: Er soll herausfinden, was mit Klara passiert ist. Und schließlich stößt Juri auf eine Wahrheit, die ihm vor Augen führt, wie eng alle drei Schicksale – sein eigenes, Klaras und Rubins – miteinander verknüpft sind …

∗∗∗∗∗

„Behaupte dich, schlag zu, geh drauflos! Das waren seine immer gleichen Worte, als er jung war. Juri konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater ihn um Frieden bat, einen letzten Segen.“ (Seite 19)

 „An guten Tagen war es mit dem Training ausgestanden. An schlechten zerrte Rubin, wenn er mitten in der Nacht mit glasigem Blick und lallend nach Hause kam, den Jungen aus dem Bett, weil er vergessen hatte, dass der die Prüfung schon hinter sich hatte. Diese zusätzliche Lektion artete in Geschrei und Gürtelschläge aus. Am nächsten Tag würde das ganze Haus wissen, dass Juri gezüchtigt worden war, und darüber lachen, wie unsicher er auf seinen schmerzenden Beinen stand.“ (Seite 66)

 Juri ist 46 Jahre alt, Ornithologe und lebt seit 26 Jahren in New York. Damals ist er geflohen … aus seinem Land, der UdSSR und vor seiner Familie bzw. seinem Vater. Er hat ein gutes Leben in New York. Und jetzt ist da plötzlich dieser Brief der ehemaligen Nachbarin, die ihn bittet in die Heimat zurück zu kommen, da sein Vater im Sterben liegt und den Sohn noch einmal sehen möchte. Juri ist hin und her gerissen. Was will sein Vater von ihm? Absolution für das was er Juri angetan hat?

Er ringt sich durch und reist in seine alte Heimat, nach Murmansk. Am Sterbebett des Vaters hört er vom letzten Wunsch seines Vater … Juri soll die Wahrheit über das Verschwinden von Klara heraus finden. Klara, eine renommierte Wissenschaftlerin, ist Juris Großmutter und Rubins Mutter. Als Rubin 6 Jahre alt war, wurde die Mutter vor seinen Augen wegen Spionage verhaftet und man hörte nie wieder etwas von ihr.

Nur widerwillig erklärt sich Juri bereit nach Klara und der Wahrheit zu forschen, in der Hoffnung so mehr über die geheime Familiengeschichte zu erfahren. Einer Geschichte, die das Leben der Protagonisten nach Klaras Verhaftung drastisch verändert hat…

„Sie setzte die Tasse ab und rieb nervös die Hände aneinander. Sie senkte den Kopf, um zu vermeiden, die Akte anzusehen, als sei sie verhext. Siebzig Jahre später war die Angst immer noch da. Das MGB gab es nicht mehr, ebenso wenig den KGB, aber die Schatten lagen noch immer bedrohlich über allem.“ (Seite 145)

In wechselnden Kapitel erzählen Juri und Rubin aus ihrem Leben. Ich erfahre wie es Rubin ergeht, nachdem die Mutter fort ist. Er wächst bei einem schwachen Vater auf und findet später Stärke und Halt in seiner Arbeit als Kapitän eines sowjetischen Fischtrawlers. Als sein Sohn Juri geboren wird, will er seinem Sohn von Anfang an zu einem starken Mann heranziehen, anders als sein Vater. Doch Juri ist eher der weiche Typ. Irgendwann flieht Juri vor seinem Vater und seiner Heimat. Beide leben in einer Zeit und in einem Land, in der man vorsichtig sein muss mit dem was man sagt und tut. Überall wird man denunziert, verraten, angeklagt und/ oder verschwindet im Nirgendwo.

Das Buch erzählt aber nicht nur die Lebensgeschichte der beiden, nein, sie erzählt auch von Suche nach Klara, und das dies nicht einfach ist, weil Akten verschwunden sind oder Teile davon geschwärzt wurden. Und deshalb ist es um so spannender, als im letzten Drittel dann Klara zu Wort kommt und ihre Geschichte erzählt, wie es zu all dem gekommen ist und was aus ihr wurde …

„Binnen weniger Stunden war Juri zum Sohn eines Mörders und Enkel eines Verräters geworden. Obwohl er wusste, dass dies keine vererbbaren Charaktereigenschaften waren, fragte er sich, welche Rolle die Abstammung spielte. Hatte auch Klara ein Verbrechen begannen, oder war sie eine echte Spionin gewesen? (Seite 155)

Ich habe mich sehr auf den neuen Autissier gefreut und doch hatte ich auch gleichzeitig Angst. Wird der neue Roman genauso gut sein wie „Herz auf Eis“, ein Roman, der mir die Füße unter dem Boden weggerissen hat, weil er so intensiv war, so unglaublich anders … Aber meine Angst war unbegründet. Schon nach wenigen Seiten hat mich Autissiers Erzählweise gepackt. Was sie über Juris und Rubins Leben erzählt, von der Zeit Stalins, dem Gulag … einfach unglaublich packend, zuweilen aber auch wie in ihrem ersten Buch sehr intensiv und erschütternd.

„Klara vergessen“ ist ein Roman der Genrationen. Er zeigt was mit einer Familie passieren kann, wenn das Gefüge aus dem Gleichgewicht gerät. Mit der Verhaftung Klaras wegen Spionage , wird aus Rubin der Sohn einer Volksverräterin und brutaler Vater, was auch Auswirkungen auf Juris Leben hat.

Neben der Geschichte um Juris Familie habe ich aber auch sehr viel über die stalinistische Zeit erfahren. Unter anderem auch wie mit Menschen umgegangen wurde, die sich nicht dem Regime unterworfen haben und im Gulag gelandet sind.

„Wie die meisten seiner Landsleute hatte Juri sich nie Näher mit dem Gulag beschäftigt. Jetzt wo seine eigene Familie einen Platz in der Geschichte einnahm, wurde er zum Spezialisten. Die Faszination, die für ihn von der erbarmungslosen Maschinerie ausging, war ebenso groß wie sein Entsetzen über das erschütternde Schicksal seiner Großmutter. Beim Durchforsten der Vergangenheit suchte er auch ein wenig sich selbst, denjenigen, der ebenso Antons Zaghaftigkeit wie Klaras Aufsässigkeit geerbt hatte. Hätten diese beiden Menschen nicht zu jener Zeit gelebt, wäre Rubin und auch sein eigenes Leben anders verlaufen. Dieser Gedanke quälte ihn.“ (Seite 241)

Wieder hat Autissier einen außergewöhnlichen Roman geschrieben. Anders als „Herz auf Eis“, aber genauso intensiv und zärtlich wie auch erschütternd und brutal. Unbedingt lesen!

Danke Isabelle Autissier für diese außergewöhnliche Art zu schreiben, die jedes Leserherz höher schlagen lässt. ♥♥♥

Goldkind von Claire Adam

Hoffmann und Campe
Fester Einband
272 Seiten
Erscheinungsdatum:
04.01.2020
ISBN: 9783455005981
Preis: 23,00 Euro

Klappentext

Der Alltag der Deyalsinghs ist nicht immer leicht – so kehrt Clyde, der Vater oft erschöpft von seiner Arbeit in der Ölfabrik zurück, während die beiden Söhne jeden Tag weite Wege in die Hauptstadt fahren, um eine Eliteschule zu besuchen. Zwar wurde nur der hochbegabte Peter angenommen, doch sollte der verträumte Paul nicht von seinem Zwillingsbruder getrennt werden. Eines Abends kehrt Paul nicht von seinem Streifzug durch den Busch zurück, der direkt hinter dem Haus der Familie beginnt. – dabei bleibt man auf Trinidad zu Hause, sobald die Sonne untergeht. Die Sorge ist groß, geschehen in der Stadt doch jeden Tag schreckliche Verbrechen – erst kürzlich wurde die Familie selbst zu Hause von Räubern überfallen. Als klar wird, dass Paul entführt worden ist, erkennt Clyde, dass die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft für seine Kinder einen unvorstellbaren Preis haben.

∗∗∗∗∗

Clyde und Joy leben mit ihren Zwillingen Peter und Paul auf Trinidad, eine kleine Insel im Karibischen Meer nahe Venezuela. Obwohl Clyde eine gut bezahlte Arbeit in einer Ölfirma hat, wächst ihm vieles über den Kopf und so nimmt er Dankbar die kleinen Geldschenke von Onkel Vishnu an. Der ist es auch, der bei der Geburt der Zwillinge feststellt, dass Paul durch Sauerstoffmangel „zurück“ bleiben wird. Peter gleitet durchs Leben, ihm gelingt alles, doch Paul hat es von Anfang an schwer und mogelt sich mit Peters Hilfe und der Nachsicht vieler durch. Dann verunfallt der Onkel und hinterlässt der Familie ein kleines Vermögen für Peters Zukunft. Als Peter von einem Ausflug nicht zurück kommt, wird irgendwann klar, dass es entführt wurde. Wenig später kommt eine Lösegeldforderung. Doch soll Clyde das Geld, welches für Peters Zukunft gedacht war, den Entführern geben um Paul zu retten?

Die Geschichte ist in drei Teile aufgeteilt. Im ersten erfahre ich von Paul und seiner Entführung. Ich mochte Paul sehr und habe mich immer wieder gefragt, warum alle immer behaupten er sei zurück geblieben. Er ist sicherlich ein ruhiges und verträumtes Kind. Paul hat von sich selbst eine sehr geringe Meinung und betrachtet sich als Anhängsel von Peter. Er versucht seinen Entführern zu entkommen und sucht immer und immer wieder nach einem Ausweg aus seiner Misere.

Der zweite Teil erzählt von der Geburt der Zwillinge, dem Leben der Familie auf Trinidad bis hin zur Entführung. Ich erfahre ein wenig über die hohe Kriminalität und Mafiavorgänge auf der Insel. Von den Träumen der Bewohner ein besseres Leben zu führen und endlich dieser Armut zu entfliehen. Peter ist ein begabter Schüler, was die Lehrer schnell feststellen. Er hat die Möglichkeit in der Stadt eine gute Schule zu besuchen. Paul darf ihn begleiten und bekommt durch einen Lehrer Nachhilfe.

Im dritten und letzten Teil schildert die Autorin den inneren Konflikt des Vaters, ob er das Lösegeld zahlen soll oder nicht, und über die Zeit nach der Entführung.

Mir hat die Geschichte gut gefallen. Sie hat allerdings ein paar Schwächen. So hat es mich zum Beispiel echt geärgert, dass Paul immer als dumm dargestellt wurde bzw. wie diese „Dummheit“ argumentiert wurde. Ja, er war langsam in dem was er tat. Doch wenn man als Kind immer und immer wieder zu hören bekommt dass man dumm sei macht das etwas mit einem Kind. Es denkt dann irgendwann es sei wirklich dumm und verhält sich auch so. Und was ich echt ein bisschen schade fand, war das der dritte Teil so kurz abgehandelt wurde. In den ersten beiden Teilen erzählt die Autorin sehr ausführlich von den Familie, dem Land, dem Leben, dem Umstand der Entführung usw. Doch als es darum geht, welche Entscheidung die Eltern treffen und warum, hatte ich den Eindruck die Autorin hatte entweder keine Zeit mehr oder aber sie hatte keine Seiten mehr zur Verfügung. Mich hätte die Auseinandersetzung des Vater und der Mutter mit der Entscheidung ob sie das Lösegeld zahlen oder nicht, sehr interessiert. Doch darauf wird nur mit wenigen Worten eingegangen. Schade!

Alles in allem dennoch lesenswert!