Mehr als nur ein „Achtsamkeits-Roman“

Knaur Taschenbuch
Flexibler Einband
368 Seiten
Erscheinungsdatum:
12.01.2018
Preis: 9,99 €
ISBN: 9783426519691

Rückentext
Leon lebt sein Leben nicht – er hetzt hindurch. Für ihn zählt nur eines: Erfolg und Geld – und das innerhalb kürzester Zeit. Diese Geschwindigkeit wird ihm zum Verhängnis, als er sich eines Tages auf der Fahrt durchs Chiemgau mit dem Auto überschlägt.
Johanna, die gerade auf ihrem Achtsamkeitsspaziergang ist, entdeckt den in seinem Sportwagen eingeklemmten Leon, leistet Erste Hilfe und verständigt den Notarztwagen. Johanna ist klar: Das ist er, der Eine, den sie nie wieder loslassen darf. Sie bringt ihn ins Haus ihrer geliebten Großmutter Marceline, einer ganz ungewöhnlichen Frau mit nur einem Wunsch: so viele besondere Momente wie möglich zu sammeln, bevor sie ganz im Vergessen versinken.

∗∗∗∗∗

„Kein Krieg ist mein Krieg oder dein Krieg oder der Krieg eines vernünftig denkenden Menschen, antwortet Marceline. Er ist immer nur der Krieg von verwirrtem Denken.“ (Seite 67)

Dieses Buch besteht eigentlich aus mehreren Geschichten/ Schicksalen, die miteinander verknüpft wurden.

Da ist Leon, ein junger Mann, der auf der Überholspur des Lebens unterwegs ist. Schöne Frauen und Autos, Karriere und Geld, Partys und Drogen … das ist seine Welt. Eines Tages verunfallt er. Dabei trifft er auf Johanna, die so ganz anders ist, als die Frauen, die er bisher kennen gelernt hat. Johanna schafft es, das Leon sich öffnet und sich dem Tod seiner Eltern insbesondere seines Vaters stellt.

Kio, fast noch ein Kind und aus seiner Heimat geflohen, lebt bei Johanna und Marceline. Er liebt die beiden, doch seine Vergangenheit holt ihn immer wieder und wieder ein. Auch die Integration im Ort wird ihm schwer gemacht.

Marceline, ist die Großmutter von Johanna. Sie führt eine Whiskybrennerei und versucht mit allen Mitteln zu vertuschen, dass sie dement ist.

Und dann ist da noch Johanna. Wächst ohne Mutter bei ihrer Großmutter auf. Diese hat das Kind früh bei der Mutter geparkt. Johanna weiß nicht wo ihr Platz im Leben ist. Sie sorgt sich rührend um ihre Großmutter und um Kio.

„Dement zu sein, hatte auch seine Vorteile. Man konnte machen, was man wollte, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Für den Bruchteil einer Sekunde waren Marceline und Demenz einander sympathisch. Dann war die Traurigkeit wieder da, und die Melodie des Abschieds (…)“ (Seite 317/ 318)

Wie man an den kurzen Zusammenfassungen sehen kann, ist dies ein vielschichtiger Roman. Es geht unter anderem um Trauerbewältigung, den Verlust der Eltern, Demenz und den damit verbundenen Ängsten und Auswirkungen, sowie dem Thema Flucht und Bewältigung von Folter und Gewalt, sowie die Integration als Flüchtling in die Gemeinschaft.

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, doch an manchen Stellen kamen dann die einzelnen Themen doch zu kurz. Ich hätte gern mehr über Kios Leben erfahren, oder Marceline und ihr Leben mit der Demenz. Aber natürlich hat man als Autorin nur begrenzte Möglichkeiten.

Von Nicole Walter habe ich bereits andere Bücher gelesen und wusste daher, dass diese mich immer nachhaltig beschäftigen.

Marceline sammelt Augenblicke, um diese nicht zu vergessen. Ich mache ähnliches. Ich sammle auch Erinnerungen … in Form von Bildern, Sprüchen, Eintrittskarten … um mich später irgendwann einmal daran zu erinnern. Ich habe sogenannte Erinnerungskisten auf dem Speicher stehen. Und gerade gestern habe ich noch einen Bericht im Radio gehört, dass man glückliche Momente sammeln soll, um sich dann in unglücklichen Momenten daran erinnern zu können. Das hat dann positive Auswirkungen.

„Wenn eine Mutter nie eine Mutter war, kann sie nicht erwarten, dass sich später eine Tochter wie eine Tochter benimmt.“ (Seite 332)

Etwas möchte ich dennoch „kritisieren“ … mich ärgert es immer, wenn Verlage bei der Auswahl der Cover und Titel so danebenhauen wie bei diesem Buch. Auch der Klappentext ist eigentlich unmöglich. Warum? Dieses Buch hat so viel mehr zu bieten, als einen lustig leichten „Achtsamkeitsroman“. Hätte ich nicht bereits Bücher von Nicole Walter gelesen, hätte ich dieses Buch nicht einmal in Betracht gezogen.

Also … lasst Euch nicht abschrecken. Lest es!!!

Jeder Tag lässt genau das in einem zurück, was man aus ihm gemacht hat …“ (Seite 63)

Was wäre wenn …

Blumenbar, ISBN: 9783351050412, Preis: 16,00 €

Klappentext
Ein junger Mann steht an der Schwelle. Die Prüfung der Jugend hat er gemeistert. Vor dem Erwachsenenlenben fürchtet er sich. Er ist bereit, alles aufzubringen, um sich Gewohnheit und Tristesse zu verwehren, der Ausweglosigkeit des Lebens zu entkommen.
In einer Spätsommernacht besiegelt er einen Pakt mit einem entfernten Bekannten: An sieben Nächten um sieben Uhr wird er losgeschickt in die Nacht, auf dass er eine der sieben Todsünden begegne. Er muss gierig, hochmütig und faul sein, neiden und wüten, Völlerei und Wollust treiben. Er wird sich von einem Hochhaus stürzen, Unmengen Fleisch essen, zum absoluten Nichtstun verdammt und zu Polyamorie verführt.
Und bis zum Morgen muss er schreiben, alles erzählen, ohne Zensur, ohne Beschönigung. Denn die sieben Todsünden sind vielleicht seine letzte Rettung.

∗∗∗∗∗

Durch so viel Form geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
-ob Sin, ob Sucht, ob Sage_
Dein fernbestimmtes: Du mußt

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

(Gottfried Benn)

Ihr alle kennt sicherlich dieses Gefühl, wenn man ein Buch in den Händen hält und weiß, dieses Buch ist etwas ganz besonderes. So erging es mir gestern mit diesem kleinen Buch von Simon Strauss. Auf dem Cover ein zerzauster junger Mann, der einen fragenden/ suchenden Ausdruck auf dem Gesicht hat. Beim Lesen des Klappentextes bekomme ich Gänsehaut und weiß … hier erwartet mich etwas ganz Großartiges. Dann auf den ersten beiden Seiten zwei Gedichte. Unter anderem das von Benn. Schon jetzt bin ich dem Buch hoffnungslos verfallen. Und es geht weiter so. Die Sprache ist der Hammer. Nachdem ich in den letzten beiden Wochen echt „schlechte“ Bücher gelesen habe dacht ich nur …. Endlich, es gibt sie noch die Bücher mit toller Sprache und Poesie … und mit voller Leidenschaft geschrieben!

Doch jetzt erst einmal genug geschwärmt …

Das Debüt von Simon Strauss befasst sich mit einem jungen Mann der kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag steht. Er hat Angst diese Schwelle zu übertreten. Angst davor dass das Leben dann monoton und langweilig wird. Der Ich Erzähler schließt mit einem Bekannten einen Packt. In sieben Nächten muss er jeweils eine Todsünde begehen und anschließend darüber schreiben. In einzelnen Kapiteln wird jede Todsünde und die damit verbundenen Erfahrungen und Emotionen beschrieben.

Beim Lesen der einzelnen Kapitel kommt mir das Ganze wie ein Manifest auf die alten Zeiten vor. An Hand der Todsünden spiegelt Strauss  die Zeiten heute und damals. Auf der einen Seite vermisst der Ich Erzähler die Zeit, in der es noch Menschen gab, die Träume hatten, die sich zusammen setzten um Pläne zu schmieden oder Aufstände zu führen. Er beklagt, dass heute jeder nur noch für sich alleine ist und sein Ding macht. Junge Menschen die immer auf der Suche nach neuen Abenteuern sind. Alles muss immer schneller, aufregender, riskanter und moderner sein. In unserer schnelllebigen Zeit hat nichts mehr Bestand. Heute freut man sich auf etwas, morgen macht man es und übermorgen hat man es schon wieder vergessen … ohne Rücksicht auf Verluste. Die Wertigkeit eines Lebens ist scheinbar nur noch davon abhängig ob man mithalten kann oder nicht. Daher ist es gar nicht verwunderlich, dass der Ich Erzähler Angst hat, zum „alten Eisen“ zu gehören. Plötzlich nicht mehr hipp zu sein. Verantwortung übernehmen zu müssen für sich und für eine eventuelle Familie. Angepasstheit ist ihm zuwider. Doch ist dem wirklich so?

Dieses Buch ist so viel mehr als eine banale Geschichte. Es ist ein Suchen und Finden der Identität … nach einer Spur, die man im Sand hinterlassen kann.

„Aber vorher lasst mich noch einmal in den Sand zeichnen. Eine Spur hinterlassen für alle, die noch erschütterbar sind. Für sie ist das hier geschrieben. Ein Text aus Angst. Aus Angst vor dem Übergang. Aber vor allem aus Hoffnung. Aus Hoffnung, dass doch noch etwas kommt.“ (Seite 129)

Ein grandioses Debüt!!! Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich sowohl Sprache als auch Inhalt gefesselt!!! Unbedingt lesen!!!

P.S.: Der Autor fordert an einer Stelle im Buch mehr Ausrufezeichen. Dieser Aufforderung komme ich gerne nach. 🙂

5 von 5 Sterne

Das Alter ist nur eine Zahl

Blanvalet Flexibler Einband  416 Seiten Erscheinungsdatum: 21.11.2016  Preis: 9,99 Euro ISBN: 9783734102462

Blanvalet
Flexibler Einband
416 Seiten
Erscheinungsdatum:
21.11.2016
Preis: 9,99 Euro
ISBN: 9783734102462

Klappentext
Franziska ist glücklich, verheiratet mit Daniel, Biologieprofessor und Experte für Amöbenforschung, die beiden haben zwei Kinder und wohnen in einem schönen Haus mit Garten in München. Eigentlich gibt es an ihrem Leben nichts auszusetzen. Doch dann landen plötzlich Briefe an eine gewisse Laura Caspari in Franziskas Briefkasten. Niemand der Nachbarn kennt sie, und als Absender steht nur der Name Alex auf dem Umschlägen. Nach langem Zögern öffnet Franzi die Briefe in der Hoffnung, einen Hinweis auf den mysteriösen Absender zu entdecken. Doch stattdessen findet sie die Erinnerungen eines Mannes an seine frühere große Liebe Laura. Mit Alex‘ flammendem Liebesbekenntnis kann ihre eigene, ein wenig langweilig gewordene Ehe es nicht aufnehmen – erst jetzt wird Franzi bewusst, dass zwischen ihr und Daniel schon seit Längerem keine Funken mehr sprühen. Als ihr Mann kurz darauf zu einer Dienstreise aufbricht, beschließt Franzi: Sie wird einmal im Leben etwas Verrücktes tun, sich auf die Suche nach Alex machen und ihm die Briefe zurückgeben. Noch ahnt sie nicht, dass diese Entscheidung bald für mehr Wirbel sorgen wird, als ihr lieb ist …

∗∗∗∗∗

Franziska hat eigentlich alles was sich eine Frau wünscht … sie sieht gut aus, hat zwei tolle Kinder (auch wenn diese gerade ihre pubertäre Phase haben), einen gutaussehenden erfolgreichen Ehemann, ein wunderschönes Haus mit Garten in einem angesagten Wohnviertel  in München. Und doch ist sie irgendwie unzufrieden. Ob es an dem kurz bevorstehenden Geburtstag liegen mag? Sie wird fünfzig Jahre alt. Plötzlich stellt sie alles in Frage. Da kommen die geheimnisvollen Briefe an eine Laura gerade Recht. Sie „verliebt“ sich in die romantischen Worte des Briefeschreibers. Sie denkt, dass irgendetwas in ihrem Leben fehlt und macht sich auf die Suche nach dem Briefeschreiber, ohne zu ahnen, was sie alles aufs Spiel setzt.

„>Ich befürchte<, sagte Helen, als ich sie am nächsten Morgen anrief und alles berichtete, >mit Ehen ist das wie mit Telefonen. Früher hatte man eines ein Leben lang – und jetzt ist es ganz normal, dass man sich jedes Jahr ein neues Handy besorgt. (…)<“ (Seite 285)

Eine Frau, in diesem Fall Franziska wird fünfzig. Sie nullt. Und wie bei vielen Millionen anderen Frauen, in Büchern oder der Realität sind manche Geburtslage, zumeist die mit einer Null ein Horror. Plötzlich wird das ganze Leben in Frage gestellt. Alles was man bisher gemacht hat ist plötzlich nichts mehr „wert“. Alles wird in Frage gestellt. Da ist Frau, in diesem Fall wieder Franziska, anfällig für schöne Worte auf Papier, denn wann hat sie das letzte Mal einen solchen Liebesbrief bekommen? Scheinbar vor gefühlten hundert Jahren.

Theresia Graw beschäftigt sich in ihrem neuen Buch mit dem Thema „Alter“ bzw. „älter werden“. Sie erzählt Franziskas Geschichte, eine Frau, die in der Mitte ihres Lebens scheinbar vor Umbrüchen steht.  Als Leserin wird mir schnell klar, dass könnte mit einigen kleinen Abweichungen auch meine eigene sein. Natürlich habe auch ich schon ein paar Nullen hinter mir. Und gerade bei der fünften fragt man sich, war das schon alles? Was hält das Leben noch für mich bereit? Aber hey … das Alter ist nur eine Zahl und das Leben hat mehr zu bieten als eine  Zahl mit einer Null dran.

Die Geschichte rund um Franziska und ihre Nöte ist bezaubernd geschrieben und beschrieben. An einigen Stellen erkennt Frau sich wieder. Es ist das dritte Buch der Autorin und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ihr Schreibstil sich etwas verändert hat. Die ersten beiden Bücher waren etwas ungezwungener … heiterer … leichter. „Wenn das Leben Loopings dreht“ hat ein wenig die Leichtigkeit verloren. Das heißt nicht, dass es mir nicht gefallen hat. Im Gegenteil … ich denke, dies ist ein Buch, das zeigt, dass auch Autoren*innen wachsen bzw. reifer werden und sich anderen Themen zuwenden.

Ich freue mich, dass ich dieses Buch lesen durfte, und noch mehr freue ich mich, dass Theresia Graw im März mein Gast in „Angelikas Büchergarten“ sein wird, um aus diesem Buch zu lesen.

Danke liebe Theresia … bis März

 

4 von 5 Sternen

Die Liebe und ihre vielen Facetten

Atlantik Verlag Fester Einband  192 Seiten Erscheinungsdatum: 16.07.2016  Preis: 18,00 € ISBN: 9783455600414

Atlantik Verlag
Fester Einband
192 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.07.2016
Preis: 18,00 €
ISBN: 9783455600414

Klappentext
Am Strand in Nordfrankreich: Sonne, Meer, Dünen und Bars. Hier treffen vier Paare ganz unterschiedlichen Alters aufeinander: zwei Teenager im Rausch der ersten Liebe, eine 35-jährige auf der Suche nach einem neuen Glück, eine gelangweilte Hausfrau, die sich ins Abenteuer stürzt, und ein altes Ehepaar, das sich noch genauso liebt wie am ersten Tag. Die Paare begegnen einander, und ihre Schicksale kreuzen sich unter dem Feuerwerk des 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag. Sie alle stehen für die Liebe in all ihren Facetten – denn egal in welchem Alter, die Liebe bleibt ein universelles Gefühl.

∗∗∗∗∗

„Die vier Jahreszeiten des Sommers“ erzählt vier Liebes- und Lebensgeschichten, die alle irgendwie miteinander verwoben sind. Da dieses Buch nur ein Büchlein ist, werde ich inhaltlich nicht viel mehr sagen, als was der Klappentext schon beschreibt. Ich möchte an dieser Stelle viel mehr die wunderbare Sprache und die leichte Melancholie des Buches durch ausgewählte Textpassagen in den Vordergrund stellen.

Beginnend im Frühling der Liebe … zwei Teenager, die gerade sich und die Liebe kennen lernen. Ein erstes herantasten, vorsichtig und ängstlich, wie ein Schneeglöckchen, das sich seinen Weg durch den Schnee sucht. Dann blüht diese erste Liebe langsam auf, wie die Natur in Frühling nach dem Winterschlaf …

Ich warte darauf, dass sie größer wird, Mama. Ich warte darauf, dass sie den Kopf an meine Schulter lehnt. Ich warte darauf, dass ihr Mund zittert, wenn ich mich ihr nähere. Ich warte auf die betörenden Düfte, die sagen, du kannst dich jetzt in mich verlieren, in mir verbrennen. Ich warte darauf, ihr Worte zu sagen, die man nicht zurücknehmen kann. Die Worte, die die Weichen stellen für ein Leben zu zweit. Für das Glück. Und manchmal für eine Tragödie.“ (Seite 24)

Dann kommt der Sommer … eine Frau von 35 Jahren sehnt sich nach einem Mann, mit dem sie alt werden kann, mit dem sie ein Familie gründen kann. Doch zwischen Wunsch und Realität klafft oft ein großer Graben. Es gibt Menschen, die einfach kein Glück haben den richtigen Partner zu finden, die im Sommer der Liebe hängen bleiben und vielleicht in der Hitze der Sonne verbrennen …

Einige Jahre später lernte ich einen Ehemann kennen. Lachen Sie nicht. Natürlich war er bezaubernd. Sogar schön. Von der Art Schönheit, die wir Frauen bei einem Mann wahrnehmen, wenn wir hungrig sind. Sein Blick, seine Stimme, seine Worte waren ungeschickt. Nach ein paar Liebesnächten, Fieber, Zärtlichkeit, Gewalt und Versöhnung wurde ich schwanger. Erst stürzt man sich aufeinander, und dann stürzt man ab.“ (Seite 57)

Im Herbst der Liebe angelangt, erzählt die Geschichte von einer Frau, die fünfzig wird und das Gefühl hat von ihrem Mann nicht mehr geliebt zu werden. Ihren Körper, so denkt sie, findet er abstoßend, weil dieser nicht mehr ohne Makel ist. Doch dieser Körper erzählt eine Geschichte … die von einer wunderbaren Liebe, aus der drei Kinder hervorgegangen sind, die natürlich Spuren am Körper der Frau zurück gelassen haben. Nach dem Frühling und dem Sommer dieser Liebe ist nun im Herbst die Zeit gekommen sich neu zu entdecken/ zu finden. Nicht immer leicht, aber durchaus möglich …

„Morgen muss ich auch den perfekten Körpern entgegentreten. Den Körpern mit makellosen Brüsten, die sie der Jugend oder der Chirurgie verdanken. Den wunderbaren, herrlich gebräunten Körpern, die den Frauenmagazinen und den Hochglanzseiten entsprungen zu sein scheinen und denen man jetzt hier am Strand begegnet, sie sind ganz nah neben uns und unseren Männern. Den Körpern mit endlosen Beinen, die auf den Kaffeterrassen unter kurzen Röckchen zur Schau gestellt werden, wie diese „Zirkel, die den Erdball in alle Himmelsrichtungen ausmessen.“ Diese Traumkörper, wie Ohrfeigen, die mich ständig daran erinnern, was man entbehrt, wenn man die fünfzig erreicht hat, was uns das Leben, die Geburten, die niederträchtige Zeit und der heimliche Kummer geraubt haben. Weil mein Mann mich nicht mehr anschaut …“ (Seite96/ 97)

Und letztendlich erzählt dieses wunderbare Buch die Geschichte der Liebe im Winter des Lebens. Zwei Menschen sind miteinander alt geworden. Sie haben Höhen und Tiefen erlebt. Ihre Liebe hat alles überdauert … sie sind eins geworden und  gehen ihren letzten Weg gemeinsam …

“Wir sind wunderbar verliebt – seit fünfunddreißig Jahren. Wir sind der Letzte des anderen, diese Gewissheit macht uns unendlich ruhig, glücklich und frei. Wir sind ewig schön füreinander.“ (Seite 179)

Neben den Einblicken in das Leben und die Liebe der einzelnen Protagonisten hat mich auch die Bedeutung der Blumen sehr fasziniert. Die spielen eine Rolle in diesem wundervollen Buch.

Für mich ist dieses Buch ist ein wahrer Schatz unter den vielen, vielen Neuerscheinungen innerhalb eines Jahres. Grégoire Delacourts Roman ist so wunderschön trotz all der Melancholie. Ich habe mich an einem Sommertag an die Küste Frankreichs locken lassen … und mein Herz dagelassen. Die Sprache und die Geschichte haben mich verzaubert ♥♥♥

Unbedingt lesen!!!

5 von 5 Sternen

Den Traum leben

Insel Verlag Flexibler Einband  491 Seiten Erscheinungsdatum:711.04.2016  Preis: 14,99 € ISBN: 9783458361411

Insel Verlag
Flexibler Einband
491 Seiten
Erscheinungsdatum:711.04.2016
Preis: 14,99 €
ISBN: 9783458361411

Klappentext
Romy könnte eine große Schauspielerin sein, aber niemand sieht sie, denn sie ist nur eine Souffleuse. Aber auch das nicht lange, denn nach einem harmlosen Flirt mit dem Hauptdarsteller Ben, dessen einzige schauspielerische Glanzleistung sein Auftritt als „Frischedoktor“ in einem Waschmittelspot ist, wird sie gefeuert. Und Ben kurz nach ihr.
Romy kehrt zurück in ihr winziges Dorf, um dort ihr Erbe anzutreten. Hier leben nur noch Alte. Und die haben sich in den Kopf gesetzt, rasch das Zeitliche zu segnen, denn auf dem Friedhof sind nur noch zwei Plätze frei. Wer da zu spät kommt, muss auf den Friedhof ins Nachbardorf. Und da gibt es – wie jeder weiß – nur Idioten.
Romy schmiedet einen tollkühnen Plan: Sie will mit den Alten ein elisabethanisches Theater bauen. Aus der gammligen Scheune hinter ihrem Hof. Und mit ihnen Romeo & Julia auf die Bühne bringen. Sie haben kein Geld, keine Erfahrung, aber einen Star: Der „Frischedoktor“ soll Regie führen! Ben ist begeistert: Regisseur! Das könnte unter Umständen der erste Job werden, den er nicht voll gegen die Wand fährt …

∗∗∗

„Es war nicht nur die klare, frische Luft, die so vertraut die Haut streichelte, es war, als spürte sie neben den Häuschen, Sträßchen und Gärten auch die, die hier schon immer gewohnt hatten. Sie hörte ihre Stimmen, ihr Gelächter, ihr Gemecker und ihr Seufzen wie ein immerwährendes Flüstern alter Geschichten, die das Laub rascheln ließen oder wie Pollen im Sonnenlicht tanzten. Erinnerungen. Wie die Farbe, die auf den Fassaden langsam verblasste.
Heimat war nicht das was man sah, sondern das, was andere niemals sehen würden.“ (Seite 35)

Romy möchte nichts anders in ihrem Leben als Theater spielen. Ihr größter Wunsch ist es einmal im Leben die Julia in Romeo & Julia zu spielen. Doch leider hat sie es bisher nicht auf die Bühne geschafft. Sie ist die, die keiner sieht, aber von der so viel abhängt … die Souffleuse. Am Tag der Premiere ereilt sie die Nachricht vom Tod ihrer geliebten Großmutter. Sie versemmelt die Premiere und bekommt die Kündigung.

Sie fährt in ihre Heimat, dem Ort an dem sie aufgewachsen ist, um die Beerdigung ihrer Großmutter zu organisieren. In dem kleinen Ort leben fast nur alte Menschen. Menschen, die einmal Romys Heimat waren. Doch unter ihnen ist ein Wettstreit ausgebrochen. Nach dem Tod von Romys Großmutter sind nur noch drei Plätze auf dem örtlichen Friedhof frei und alle Alten wollen einen dieser begehrten Plätze. Mehrere Bewohner des Dorfes versuchen per zufällige Unfälle eines der Gräber zu bekommen.

Romy beschließt dem ein Ende zu setzten und die Alten zu beschäftigen. Sie entschließt sich auf dem Hof der Großmutter ein elisabethanisches Theater zu bauen. Doch mit ihrer spontanen Idee stößt sie bald an verschiedene Grenzen … die des Geldes, der Baubehörde und der Besetzung für das Stück … Schafft sie es dennoch?

„Menschen verändern sich. Manche verlassen ihre Heimat und finden woanders eine neue. Es gibt nicht die eine Liebe, die alles festlegt. Die Welt hat viel zu bieten. Und manchmal muss man länger suchen, bis man findet, was das Herz berührt.“ (Seite 392)

Ich habe das Buch in einem Rutsch gelesen. Man konnte sich sehr gut in die Geschichte fallen lassen. Die Idylle des Dorfes mit all seinen Bewohnern hätte auch mein Dorf sein können. Wer auf dem Land lebt, weiß, dass man nicht alleine ist. Jeder kümmert sich um jeden bzw. einige würden es auch einmischen nennen. Wie auch immer. Diese Gemeinschaft in Romys Dorf ist die, wie es sie überall auf der Welt geben könnte. Mal ist man sich näher mal weniger.

Doch neben der lustigen Geschichte rund um Ben, Romy und dem Theater gab es aber auch viele nachdenkliche Themen … das Leben auf dem Land mit seinen Vor- und Nachteilen … Alterseinsamkeit … die Todessehnsucht der Alten und wie man es schafft ihnen neuen Lebensmut zu geben … das Aufwachsen ohne Eltern und die Sehnsucht zu erfahren wer der Vater ist … Heimatlosigkeit und das Heimat nicht unbedingt ein Ort sein muss, sondern auch Menschen sein können … Republikflucht …

All diese Themen streift der Autor nur, aber dennoch hat es mir sehr gut gefallen, wie er diese in sein Buch eingebaut hat. Dies ist eines der Bücher, mit dem man seine Emotionen ausleben kann … ich habe gelacht, geweint und vieles reflektiert …  Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen!

„Das Leben verbraucht den Geist, das ist wahr, aber es kann ihn auch mit neuer Kraft befeuern.“ (Seite 297)

„Der Konjunktiv jedoch war das Glitzerpapier auf dem Geschenk namens Leben (…)“ (Seite 399)

4 von 5 Sternen

 

Eine Hommage an das Älter werden und das Alter

Insel Verlag Fester Einband  192 Seiten Erscheinungsdatum: 08.08.2015  Preis: 19,95 € ISBN: 9783458176527

Insel Verlag
Fester Einband
192 Seiten
Erscheinungsdatum:
08.08.2015
Preis: 19,95 €
ISBN: 9783458176527

Klappentext
Dies ist die Geschichte von drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Von drei Männern, die die Freiheit lieben. Eines Tages aber ist es mit ihrer Einsiedelei vorbei. Zuerst stößt eine Fotografin zu ihnen, sie sucht nach einem der letzten Überlebenden der Großen Brände, einem gewissen Boychuck. Kurze Zeit später taucht Marie-Desneige auf, eine eigensinnige, zierliche Dame von zweiundachtzig Jahren. Die Frauen bleiben. Und während sie dem Rätsel um Boychucks Überleben nachgehen, kommen sich diese Menschen näher, und plötzlich ist alles wunderbar kompliziert.

∗∗∗∗∗

„Ted war ein gebrochener Mann, Charlie ein Naturbursche und Tom ein Draufgänger. Die Tage vergingen, und sie wurden gemeinsam alt. Sehr alt. Sie hatten alles hinter sich gelassen. Keiner von ihnen wollte zurück in sein früheres Leben, sie wollten einfach morgens aufstehen, den neuen Tag begrüßen, der nur ihnen selbst gehörte, und sich von niemandem in irgendwas rein reden lassen.“ (Seite 40)

Ted, Charlie und Tom leben in den nordkanadischen Wäldern. Zusammen sind sie fast zweihundert Jahre alt. Sie sind der festen Überzeugung, dass sie noch viele Jahre vor sich haben. Doch eines Morgens ist Ted tot. Und ohne, dass es die beiden anderen ahnen ist mit seinem Tod auch die Einsiedelei vorbei. Denn ein paar Tage nach Teds (auch Ed oder Boychuck genannt) taucht eine Fotografin auf, um über die Großen Brände und Boychuck zu recherchieren, der als einer der wenigen diese Brände überlebt hat. Aber die Fotografin stößt nur auf Charlie und Tom. Von Charlie ist sofort fasziniert.

„Ich war beeindruckt von dieser dicken, knotigen Hand mit den steifen Gelenken, die im Fell des Hundes so geschmeidig war, und noch mehr von Charlies Stimme, die, wenn sie dem Hund galt, leiser wurde, samtweich und zärtlich“ (Seite 18)

Doch damit nicht genug, stößt ein paar Tage später eine alte Dame zu den beiden Alten. Sie wird von Bruno, einem jungen Mann, der ab und an nach den Alten schaut und sie mit Lebensmittel versorgt, ins Lager gebracht. Marie-Desneige, so heißt die alte Dame ist zweiundachtzig Jahre alt und hat davon sechsundsechzig Jahre in einer Psychiatrie verbracht. Nun ist sie mehr oder weniger getürmt. Die Männer errichten ihr eine Hütte und fortan lebt Marie-Desneige bei Tom und Charlie. Die Fotografin schaut immer mal wieder vorbei und bleibt dann für einige Zeit dort. Doch das Leben der beiden Männer wird durch die Anwesenheit von Marie-Desneige durcheinander gebracht. Sie und Charlie nähern sich immer mehr an …

„Ich liebe Geschichten, ich liebe es, wenn man mir ein Leben von Anfang an erzählt, mit allen Umwegen und Schicksalsschlägen, die dazu geführt haben, dass ein Mensch sechzig oder achtzig Jahre später vor mir steht, mit einem ganz bestimmten Blick, ganz bestimmten Händen und einer ganz bestimmten Art zu sagen, dass das Leben gut oder schlecht gewesen ist.“ (Seite 19/ 20)

Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll, denn dieses Buch hat mich einfach umgehauen.

Ich liebe dieses Cover ♥ Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich nur, was für ein charismatischer Mann. Allein das war schon ein Argument, sich den Klappentext näher anzuschauen. Als ich dann angefangen habe dieses Buch zu lesen, bekam dieses Gesicht immer mehr einen Namen und am Ende des Buches habe ich nur gedacht … ja, das muss Charlie sein. Genau so und nicht anders stelle ich mir diesen Mann vor. Ein vom Leben gezeichneter Mann, der dennoch eine Wärme und Zärtlichkeit in sich hat, die man in seinem Gesicht ablesen kann.

„Bei alten Menschen sind die Augen das Wichtigste. Ihre Gesichter sind eingefallen, die Haut ist schlaff und faltig, vor allem rings um den Mund, die Augen, die Nase und die Ohren. Ihre verhärmten Gesichter sind schwer zu entziffern. Von alten Menschen erfährt man nur etwas, wenn man ihnen in die Augen sieht. Die Augen enthalten ihre Lebensgeschichte.“ (Seite 82)

Dann fiel mir die Aufmachung des Buches auf. Zu Anfang eines jeden Kapitels, steht eine „Einleitung“. Sie erzählt, was mich als Leserin erwartet, beschreibt Landschaften, Gefühle oder Situationen, Dinge die sich ereignen werden oder auch nicht. Ich war dann immer ganz gespannt, was dann tatsächlich passierte. Man muss sich das ähnlich wie bei einem Theaterstück vorstellen, bei dem man vor Beginn ein Heftchen bekommt, in dem die einzelnen Akte beschrieben sind. Unter diesen Text findet ihr einen kleinen Auszug aus einem Kapitel …

„Jeden Morgen führen sie dasselbe Gespräch, mit leichten Variationen, ein Gespräch, das sie nicht weiterbringt. Die beiden erleben ihre letzten Momente der Zweisamkeit. Bald werden zwei Neue zu der Gemeinschaft am See dazustoßen, eine kleine alte Dame mit großen schwarzen Augen und eine große, kräftige Frau, die die Legenden von Boychuck zum Vorwand nimmt, um ihnen einen Besuch abzustatten. (…) Und was ist mit der Liebe? Nun, die Liebe muss noch etwas warten, ihre Zeit ist noch nicht gekommen.“ (Seite 68)

Was mich jedoch am allermeisten berührt hat, war die Geschichte um diese alten Menschen. Die Autorin Jocelyne Saucier hat es geschafft eine wundervolle Hommage an das Alter und das Älter werden geschrieben. Mit ihrem eigenwilligen Stil (viele verschachtelte Sätze, was ich jedoch sehr mag) und ihrer poetischen Sprache schafft sie es die Gefühle und Gedanken dieser Menschen zu transportieren.

Wir leben in einer Zeit, in der es immer mehr ältere Menschen gibt. Jocelyne Saucier zeigt mit dieser wundervollen Geschichte, dass es keine Altersgrenze für die Liebe, den ersten Kuss, den Freiheitsdrang, die Hoffnung und dem Leben selbst gibt.

Für mich ist dieses wundervolle Buch eines der Bücher in 2015!
Chapeau Jocelyne Saucier ♥♥♥

„Die alten Leute wurden ihr wichtiger, als sie je gedacht hätte. Sie liebt ihre brüchigen Stimmen, ihre verlebten Gesichter, die langsamen Bewegungen, ihr Zögern, wenn ein Wort nicht einfiel oder eine Erinnerung sich nicht greifen lassen wollte. Die Fotografin liebte es, wie die Alten auf dem Strom ihrer Gedanken dahintrieben und manchmal mitten im Satz einschliefen. Das hohe Alter schien ein Hort der Freiheit zu sein, wo man sich keinen Zwängen mehr unterwirft und seinen Geist auf Wanderschaft schicken kann.“ (Seite 85/ 86)

5 von 5 Sternen

Ich danke dem Insel Verlag für das Leseexemplar.

 

Ich bin hier

Verlag Antje Kunstmann Fester Einband  280 Seiten Erscheinungsdatum: 01.07.2015  Preis: 19,95 € ISBN: 9783956140532

Verlag Antje Kunstmann
Fester Einband
280 Seiten
Erscheinungsdatum:
01.07.2015
Preis: 19,95 €
ISBN: 9783956140532

Klappentext
Millie Bird ist sieben, als sie ihr erstes totes Ding findet, Rambo, ihren Hund. Von da an führt sie Buch über alles, was auf der Welt verloren geht. Darauf, dass sie auch  ihren Dad in ihr Buch der toten Dinge eintragen muss, war sie überhaupt nicht vorbereitet, und auch nicht darauf, dass ihre Mom im Kaufhaus nur kurz weggeht und nicht wiederkommt.
Karl ist siebenundachtzig, als sein Sohn ihn ins Altersheim bringt. Hier wird er nicht bleiben, denkt Karl, und kurz darauf haut er ab. Erst einmal ins Kaufhaus, bis sich etwas Besseres findet. Dort trifft er Millie.
Agatha Pantha ist zweiundachtzig und geht nicht mehr aus dem Haus, seit ihr Mann gestorben ist. Halb versteckt hinter Gardine und Efeu sitz sie am Küchenfenster und beschimpft Passanten. Bis das kleine Mädchen von gegenüber zurückkommt, allein …

∗∗∗∗∗

Dann führt sie ihre Gummistiefel spazieren. Hoch und runter auf der Rolltreppe, zuerst gehend, dann springend, hüpfend und winkend wie die Queen. Sie setzt sich oben an die Treppe und schaut zu, wie die Stufen sich selbst verschlucken. Was passiert, wenn die Stufen sich nicht rechtzeitig flach machen? Fragt sie ihre Gummistiefel. Sie stellt sich vor, wie die Stufen sich am Ende der Treppe stapeln und in die Gänge purzeln. Sie versucht mit jedem, der an ihr vorbeigeht, Blickkontakt herzustellen, und immer wenn es klappt, hüpft die Luft vor ihr auf und ab, wie bei den alten Filmen, die sich ihre Mum anschaut. Sie spielt Verstecken mit einem Jungen, der gar nicht merkt, dass er mitspielt. Als Millie ihm mitteilt, das sie ihn gefunden hat, fragt er sie als Antwort, warum ihr Haar so aussieht, und beschreibt mit dem Zeigefinger eine Spirale. Das sind Balletttänzerinnen, sagt sie. Abends springen sie von meinem Kopf und tanzen mir etwas vor.“ (Seite 14/ 15)

Als Millie Bird zum ersten Mal in ihrem Leben dem Tod begegnet ist sie sieben Jahre alt. Fortan führt sie eine Liste der toten Dinge. Eines Tages steht auch ihr Vater auf dieser Liste, aber Millie mag nicht daran denken, und blendet dies aus. Eines Tages geht sie mit ihrer Mutter in ein Kaufhaus. Millies Mum setzt sie in der Abteilung für Damenoberbekleidung ab und befiehlt Millie hier zu warten, bis sie wieder zurück kommt. Doch Millies Mum kommt nicht zurück. So verbringt Millie drei Tage und drei Nächte im Kaufhaus, bis sie entdeckt wird. Doch Millies einzige Sorge ist es, dass ihre Mutter sie nicht finden könnte. Sie flüchtet nach Hause, doch auch dort ist ihre Mutter nicht. Millie findet einen Hinweis darauf, wo ihre Mutter sein könnte und beschließt sie zu finden.

„Karl besaß weder einen Computer noch eine Schreibmaschine oder wenigstens eine Tastatur. Er tippte blind auf Mülltonnendeckel, in die Luft, auf die Köpfe kleiner Kinder, auf seine Beine. Fragen tippte er, bevor er sie stellte, nur um sicherzugehen, dass er sie tatsächlich stellen wollte. In der Verschwiegenheit seines eigenen Zuhauses, ehe er zu seinem Sohn gezogen war, hatte Karl Tastaturen auf Couchtische, Wände und Duschvorhänge gemalt. Er liebte die Bewegungen der Hände beim Tippen, den Tanz der Finger, die wie beim Square-Dance umeinander herumhüpften. Er hatte beobachtet, wie die Finger seiner Mutter, und später dann Evies, über die Tasten sprangen wie Wassertropfen auf heißem Asphalt, du er fand die gekrümmten Finger einer Frau beim Tippen ebenso elegant und erregend wie ihr Fußgewölbe oder ihren Nacken.“ (Seite 80)

Karl der Tastentipper trifft das erste Mal auf Millie im Kaufhaus. Er sitzt in der Cafeteria und trinkt seinen Kaffee, als Millie ihn anspricht. Millie ist fasziniert von dem immer zu tippenden Karl. Was keiner ahnt, Karl lebt zurzeit im Kaufhaus. Nach dem Tod seiner Frau hat Karl bei seinem Sohn gelebt. Doch dessen Ehefrau wollte Karl nicht in ihrem Haus haben. Also beschließt Karls Sohn, seinen Vater in einem Altersheim unterzubringen. Doch dort ist Karl so unglücklich, dass er nach ein paar Tagen abhaut. Er findet Zuflucht im Kaufhaus, wo er Millie kennen lernt.

„Sie hasst sich selbst, ihren Körper, und jetzt weint sie, Tränen rinnen über ihr Gesicht, und es ist erbärmlich, und sie ist eine alte alte alte traurige traurige traurige Frau, und sie hasst sich so sehr; mehr als alles andere ist es dieses Gefühl, das sie am deutlichsten spürt.“ (Seite 234)

Agatha Pantha hat seit dem Tod ihres Mannes vor sieben Jahren das Haus nicht mehr verlassen. Sie hat keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Lebensmittel bekommt sie einmal in der Woche geliefert. Dafür legt sie das Geld unter die Fußmatte. Ihren Alltag lebt sie nach der Uhrzeit. Jeder Tag hat den gleichen Ablauf zur gleichen Zeit. Sie sitzt unter anderem am Fenster und beschimpft die Passanten, die daran vorüber gehen. Eines Tages bemerkt sie, wie Millie, die gegenüber wohnt, ohne ihre Mum nach Hause kommt. Als Millie dann auch noch bei an der Tür klopft, gerät Agathas Leben aus den Fugen. Zuerst will sie nicht so recht etwas mit Millie und ihren Problemen zu tun haben, aber schließlich erklärt sie sich bereit Millie bei der Suche nach der Mutter zu unterstützen.

„Er war leer geworden, aber ohne die Erwartung, die etwas Leeres, zum Beispiel ein Blatt Papier oder eine Leinwand hervorruft; ohne das Staunen, die Hoffnung und die Angst, die Leere manchmal erzeugen kann. Er war einfach nur nichts. In der Welt der Satzzeichen hätte er ein Bindestrich sein können – frei schwebend, dazwischen, nicht unbedingt nötig.“ (Seite 95/ 96)

Wahnsinn, was für ein wunderschönes Buch!!! Diese Geschichte um Millie hat mich einfach nicht mehr losgelassen. Die einzelnen Charaktere sind zum Teil schon sehr schrullig. Aber genau das macht sie so liebenswert.

Da ist Millie, die mit ihren Gummistiefeln redet, und überall Schilder und Notizen für ihre Mutter mit der Aufschrift „Ich bin hier“ hinterlässt.

Da ist Karl, der immerzu tippen muss. Er liebt das Tippen und es beruhigt ihn. Für ihn ist das Tippen eine Konstante in seinem Leben, vor allem nach Evies Tod.
Dann ist da noch Agatha, die wohl schrägste Figur im Buch. Sie lebt nach der Uhr und wehe einer verstellt diese oder bringt sie aus ihren Rhythmus. Täglich vermisst sie ihren Körper, schreibt alles auf. Sie beschimpft Leute auf übelste ohne, dass diese ihr etwas getan haben.

„Wie wird man alt, ohne zuzulassen, dass es nur noch Traurigkeit gibt?“ (Seite 64)

In dieser eigentlich schönen Geschichte um Millie Bird geht es um ernste Themen. Dem Verlassen werde, dem Älter werden und dem Tod.

Es ist traurig zu lesen, wie Millie ihren Vater verliert, und dann die Mutter Millie zurück lässt, weil diese den Tod ihres Mannes nicht verkraften kann und vollkommen überfordert ist.

Es ist traurig zu lesen, wie Karl in ein Altenheim abgeschoben wird, nur weil er alt und unbequem ist.

Es ist traurig zu lesen, wie sehr Agatha unter dem Verlust ihres Mannes leidet und nicht mehr am Leben teilnehmen möchte und einfach nicht mehr das Haus verlässt.

Aber trotz all dieser traurigen Dinge gibt es auch die schönen Dinge in dem Buch. Millie findet Karl. Karl findet Millie. Millie findet Agatha. Agatha findet Millie. Karl findet Agatha und Agatha findet Karl. Und nicht nur das, Karl und Agatha finden noch einmal die Liebe und den Mut ein neues Leben zu beginnen. Und Millie? Ob Millie ihre Mutter findet, müsst ihr schon selber lesen ….

„Unter einigen Schwierigkeiten setzt sie sich auf den Boden und streckt die Beine vor sich aus. Karl macht unter ungefähr genauso großen Schwierigkeiten das Gleiche. Sie beugen sich einander entgegen, ihre Gesichter schweben aufeinander zu, bis sie ganz nah sind. Beide entdecken noch mehr Falten im Gesicht des anderen. Agatha bemerkt mehr Haare in seinen Ohren als angenommen. Karl bemerkt ein Haar an Agathas Kinn. Sie schließen die Augen und küssen sich.“ (Seite 264)

Unbedingt lesen ♥♥♥

5 von 5 Sternen

Ein poetischer Genuss

mare Fester Einband 96 Seiten Erscheinungsdatum: 10.02.2015  Preis: 18,00 € ISBN: 9783866482050

mare
Fester Einband
96 Seiten
Erscheinungsdatum:
10.02.2015
Preis: 18,00 €
ISBN: 9783866482050

Klappentext
Juli 1945, ein heißer Sommertag am Strand von San Cataldo, am östlichen Ufer von Italiens Absatz: Fasziniert beobachten die Brüder Ezio und Alberto die Mädchen am Strand, die in hochgeschlossenen Badeanzügen vorbeistolzieren. Bis die 20-jährige Giovanna Berlucchi aus der Brandung auftaucht – in einem Zweiteiler. So etwas haben die Jungen noch nie gesehen. Ezio verliebt sich leidenschaftlich in die schöne donna Pugliese, und im Laufe dieses Sommers, in dem der Zweiteiler nicht die einzige Offenbarung bleibt, wird er ihr zwei Heiratsanträge machen. Doch Giovanna liebt das Meer und ihre Freiheit, sie hat die „Lunge eines Delfins“ und kann länger tauchen als drei ihrer Schwestern zusammen: Auf beide Anträge antwortet sie, indem sie zum Meer läuft und in den Wellen verschwindet. Aus Schmach und Kummer flieht Ezio, so weit er kann, vom Süden in den Norden Italiens. Hier wird er Apfelpflücker, und in den kalten Südtiroler Wintern melkt er Kühe – doch nie vergisst er Giovanna und den gemeinsam verbrachten Sommer am Meer. Über sechs Jahrzehnte sehnt er sich nach seiner ersten und einzigen großen Liebe. Da trifft ein Brief von ihr ein.

∗∗∗∗∗

„Die Jahreszeiten wechseln, aber die Tage sind alle gleich. Heute riecht nach gestern, und gestern schmeckt wie vorgestern, und vorgestern klingt wie alle Tage davor. Das Einzige, was die Tage noch unterscheidet, ist das Gefühl. Die Sehnsucht die immer größer wird, die mit jedem verstreichenden Tag zu wachsen scheint.“ (Seite 10)

Ezio und Giovanna treffen sich im Sommer 1945 zum ersten Mal. Es ist der Sommer nach Kriegsende. Das Leben nimmt langsam wieder seinen Lauf. Ezio ist auf den ersten Blich hoffnungslos in Giovanna verliebt. So sehr, dass er ihr nach kurzer Zeit einen Heiratsantrag macht. Doch Giovanna rennt davon und stürzt sich ins Meer. Die beiden verbringen einen ganzen Tag am Strand. Am Abend fragt er sie noch einmal und wieder rennt Giovanna ins Meer und schwimmt davon.

„Man darf den Zusammenhang zwischen Lachen und Liebe nicht unterschätzen, aber ein leichtherziges Lachen ist etwas anderes als ein Lachen, das Liebe beantworten will. Vielleicht sogar das Gegenteil: ein Lachen, das der Liebe davonlaufen, sie auf Distanz halten will, weit weg vom Herzen.“ (Seite 45)

Ezio beschließt direkt am nächsten Tag die Stadt zu verlassen. Er kann nicht damit leben, dass Giovanna ihn abweist. Und so reist er tausende  Kilometer von ihr weg. Er beginnt ein neues Leben als Apfelpflücker. Doch Giovanna kann er nicht vergessen. Eines Tages trifft ein Brief von ihr ein, der sein ganzes Leben auf den Kopf stellt.

„Dann kam die Sehnsucht. Die Sehnsucht, die allmählich wächst, wenn sie nicht gestillt wird, die immer stärker wird, solange Fragen bleiben. Die Sehnsucht, die endlich aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit emporgestiegen war.“ (Seite 86)

Was für ein wunderbares kleines Buch.  Zuerst ist einmal da dieser ungewöhnliche Stil. Es gibt keine Kapitel, sondern nur Abschnitte. Die Geschichte wechselt immer zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Dabei werden zeitgeschichtliche Details eingebettet, was mir sehr gut gefallen hat. Auch dieses „Abschweifen“ der Geschichte in Nebengeschichten, die dann immer mit dem Satz endeten … aber das ist eine ganz andere Geschichte … einfach genial gemacht. Das Zeigt, dass das Leben unzählige Geschichten bereithält, die es vielleicht wert sind aufgeschrieben zu werden.

„Das Gedächtnis ist unzuverlässig und wählerisch, aber nicht wirr. Es stellt Zusammenhänge her: zwischen Düften und Feldern, zwischen Geräuschen und Plätzen mit alten Gebäuden, zwischen Berührungen und Menschen. Die zarten, durchscheinenden Fühler von Giovannas Gedächtnis ertasten einen Kuss, einen Mund, einen Mann.“ (Seite 85)

Von der Sprache fühle ich mich einfach nur verzaubert. Dem Autor gelingt es immer wieder mich in die Situationen und Orte hinein zu bringen. Ich hatte oft das Gefühl ich säße als Zuschauer am Rande, aber dennoch mitten im Geschehen. Die Orte, Handlungen und Gefühle sind so beschrieben, als könne man sie selbst erleben oder fühlen.

Ernest van der Kwast hat hier ein ganz besonderes Stück Prosa geschaffen. Diese Geschichte macht Mut an die Liebe zu glauben, an den Menschen den man einst in sein Herz geschlossen hat. Auch wenn es manchmal bedeutet 60 Jahre seines Lebens zu warten. Wahre Liebe stirbt nicht.

„Sie sah in sofort, den Jungen, der ein alter Mann war. Vorsichtig stieg Ezio aus. Ein anderer Fahrgast wollte ihm helfen, aber Ezio wehrte ab. Wenn er sich Zeit nahm, kam er alleine zurecht.
Dann sah er sie. Die barfüßige Verzauberung von achtzig Jahren. Er sah ihr weißes Haar und die Falten in ihrem Gesicht, und er sah ihre Schönheit, die nirgendwo mehr zu sehen war.“ (Seite 95)

Ich habe dieses Buch ganz langsam gelesen, weil ich jede einzelne Seite genießen wollte. Denn das ist dieses Buch … ein poetischer Genuss ♥

5 von 5 Sternen