„Lily“ von Rose Tremain

Insel Verlag, Fester Einband, ISBN: 9783458642961, Preis: 22,00 Euro, Hier kaufen

Klappentext

London, 1850: Mitten im Winter findet der junge Kommissar Sam Trench im Victoriapark ein Bündel – darin liegt ein Neugeborenes. Die kleine Lily wird bei einer Pflegefamilie in Suffolk untergebracht, wo sie unbeschwerte Jahre verlebt, bis sie mit sechs ins Waisenhaus nach London muss, um zur Näherin ausgebildet zu werden. Dort herrschen strenge Regeln und die Aufseherinnen bestrafen die Mädchen hat. Als junge Frau kommt Lily bei einer Perückenmacherin unter und könnte endlich ein selbstbestimmtes Leben führen, doch eine schwere Schuld lastet auf ihr …

Sam Trench hat Lily nie ganz aus den Augen verloren, und als er der jungen Frau wieder begegnet, fühlen sich die beiden zueinander hingezogen. Lily glaubt, dass sie mit Sam endlich ein neues Leben beginnen kann – aber kann sie die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen?

∗∗∗∗∗

„Warum habe ich so lange und so hart dafür gekämpft, mich an einem Ort zu behaupten, der es, seit ich ihn betrat, auf meine Vernichtung abgesehen hat? Warum habe ich mich nicht schon als Kind dem Tod ergeben, denn sind Kinderbilder vom Tod nicht fantasiereich und voller fremdartiger Schönheit?“ (Seite 9)

Lily wir als Baby von dem jungen Kommissar Sam Trench in einer kalten Winternacht im Park gefunden. Er bringt das Baby in das nahegelegene Waisenhaus. Doch Lily bleibt nicht lange dort, sonder kommt in eine Pflegefamilie. Dort ist sie eine Weile glücklich, denn die Familie behandelt sie fast wie ihre eigene Tochter. Doch die Familie weiß, das Lilys Zeit bei ihnen begrenzt ist. Denn die Waisenkinder kommen immer nur bestimmte Zeit zu Pflegefamilien. Ist diese Zeit abgelaufen, gehen die Kinder wieder ins Waisenhaus zurück und die Pflegefamilien bekommen ein neues Kind.

Nach sechs Jahren muss Lily also zurück ins Waisenhaus. Dort wird sie zur Näherin ausgebildet, um dann später bei einer Perückenmacherin unter zu kommen. In dieser Zeit trifft sie dann auch Sam Trench wieder, der Mann, der sie als Baby gefunden hat. Sie verliebt sich in ihn. Doch die dunklen Schatten aus ihrem noch jungen Leben lassen Lily nicht in Ruhe und sie flieht aufs Land, dorthin wo einst ihre Zieheltern lebten. Doch kann sie hier die Vergangenheit hinter sich lassen?

„Als Lily die Stufen zu dem Gebäude hinaufstieg, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Hinter sich hörte sie die Stimmen von Kindern, die im Hof spielten, und sie dachte, wie schön der Lärm der Jungen und Mädchen war, die da draußen herumrannten und fangen spielten, als wären sie sorglos und glücklich und hätten ihren realen Kummer für eine Weile vergessen. Aber Lily wusste, dass dem nicht so war. Diese kleinen Wesen wussten genau, dass sie die Kinder von >Unwürdigen< waren. Sie wussten, dass sie nur am Leben waren, weil ihre fernen Wohltäter ihnen eine Hand ausgestreckt hatten.“ (Seite 134/ 135)

Dieses Buch hat es in sich. Es scheint so, als sei es eine „rührselige“ Geschichte über ein Waisenkind, dass seinen Weg macht. Doch es ist viel mehr. Schon zu Anfang erfährt man nämlich, dass Lily ein schweres Verbrechen begangen hat und nur darauf wartet, dass man sie findet und in den Kerker schmeißt. In Rückblicken erfahre ich dann ihre Lebensgeschichte. Wobei „Lebens“ ein wenig weit gegriffen ist. Denn die Protagonistin ist noch sehr jung.

Die Zeit bei der Pflegefamilie gehört zu den schönen Erinnerungen in Lilys Leben. Dort fühlte sie sich geliebt und angenommen. Die Zeit im Waisenhaus war die schlimmste Zeit in ihrem Leben. Hier waren Prügel und Züchtigungen an der Tagesordnung.

Puh, das war kein leichtes Buch. Als Leserin weiß ich von der ersten Seite an. dass irgendetwas „Schlimmes“ passiert sein muss, passieren wird. Das hatte natürlich den Sog, dass ich unbedingt wissen wollte, was es war und habe das Buch somit  förmlich inhaliert. Doch an manchen Stellen musste ich es dann doch aus der Hand legen, weil das was Lily passiert ist, mich einfach eiskalt erwischt hat.

Die Bücher von Rose Tremain konnten mich in der Vergangenheit immer begeistern. „Lily“ ist auch wieder eins dieser Bücher. Scheinbar leise und rührselig kommt Lilys Geschichte daher, doch nach ein paar Seiten bekommt man den ersten Einblick in Lilys „Hölle“ und die steigert sich im Verlauf des Buches. Kann es bei all dem noch ein „schönes“ Ende für Lily geben? Lest selbst.

„Träume, so befand Lily, spielten bei fast allem eine Rolle. Sie konnten die Vergangenheit in die Zukunft verwandeln. Sie konnten dich auf einen Weg schicken, an den du zwar einmal gedacht, den zu gehen du jedoch nie gewagt hattest – bis zu einem bestimmten Moment. Mit der wirren Mathematik des Gehirns können Träume manchmal Gleichungen vor dir ausbreiten, die vollkommen und korrekt sind. Und so geschah es, dass eines Tages – es war ein Sonntagnachmittag, sie war fast sechzehn und döste vor ihrem Kamin – solch ein Traum in Lilys Gehirn gesickert war.

Sie stand beinah sofort auf, ohne im Einzelnen darüber nachzudenken, was sie gleich tun würde, wollte es lieber als etwas betrachten, das gewissermaßen schon geschehen war.“ (Seite 200)

 

 

 

„Je tiefer das Wasser“ von Katya Apekina

Suhrkamp Verlag
Fester Einband
396 Seiten
Erscheinungsdatum:
17.02.2020
ISBN: 9783518429075
Preis: 24,00 Euro

Klappentext

Nach dem Selbstmordversuch der Mutter geht alles ganz schnell. Edie und Mae müssen nach New York, zu Dennis Lomack: Er ist ihr unbekannter Vater und die Schriftstellerikone einer ganzen Generation. Für Edie bedeutet die neue Umgebung einen unverzeihlichen Verrat, für Mae die langersehnte Möglichkeit der Befreiung. Schnell kommt es zum Bruch. Während die eine einen verzweifelten Rettungsversuch unternimmt, lässt sich die andere ein auf die Zuneigung des Vaters und die Bitte, ihm beim Schreiben seines neuen Romans über die Mutter zu helfen. Alle sind sie getrieben von einer Obsession: verstehen, was zwischen ihnen, was tief in ihnen vor sich geht.

∗∗∗∗∗

„Er fing mit seiner Beziehung zu Marianne an. In der Geschichte gibt es eine lange Tradition von Männern, die jüngere Frauen heiraten: schön und gut. Außerdem war es die Zeit der freien Liebe. Aber wäre Jackson McLean noch am Leben gewesen, wären Marianne und Dennis nie zusammengekommen! Marianne war ein Kind. Dennis protzte, er würde sich um sie kümmern, aber in Wirklichkeit plünderte er sie für sein eigenes Werk aus.“ (Seite 172)

Marianne hat versucht sich umzubringen. Nicht das erste Mal. Nun wird sie in eine Psychiatrische Klinik eingewiesen. Ihre beiden Töchter Edie (16 Jahre) und Mae (14 Jahre) müssen zu ihrem Vater Dennis nach New York. Er hat die Familie vor 12 Jahren verlassen und den Kontakt vollkommen abgebrochen.

Dennis Lomack war ein erfolgreicher Schriftsteller und Marianne seine Muse. Solang sie an seiner Seite war, schrieb er Romane. Dennis lernte Marianne kennen als sie 9 Jahre alt war. Nach dem Tod von Mariannes Vater heiraten die beiden. Zu diesem Zeitpunkt ist Marianne 16 Jahre alt.

„In jenem Frühling war Dad das Einzige, was für mich zählte. Ich wollte ihm nur gefallen. Ich wollte ständig seine Aufmerksamkeit. Wenn seine Gedanken bei Mom waren – und das waren sie oft – , dann wurde ich eben Marianne.

(…)

Ich hatte ein unglaubliches Talent dafür, Dads Muse zu sein. Und ich brauchte nicht viel Fantasie, um mir vorzumachen, dass seine Gefühle für Mom mir galten, weil ich ihre Zweitbesetzung war.“ (Seite 221/222)

Mae sieht ihrer Mutter zu verwechseln ähnlich und Mae fühlt sich von ihrer Mutter eingeengt. Marianne schleppt ihre Tochter überall mit hin, was Mae Kindheit und Jugend sehr belastet. Deshalb genießt sie das neue Leben bei ihrem Vater, weit weg von ihrer einnehmenden Mutter.

Dennis sieht in seiner Tochter Mae die junge Marianne und findet in ihr die Muse aus früheren Zeiten. Und plötzlich fließen wieder die Worte aufs Papier …

„An diesem Nachmittag spürte ich zum ersten Mal … ich weiß nicht, wie ich es genau beschreiben soll. Als mein Kopf in Dads Schoß lag, ballte sich das ganze Glück, das mir gefehlt hatte, in diesem einen Augenblick zusammen. Ich sah zu ihm hoch und war nicht mehr ich selbst. Ich war Mom, aber nicht, wie ich sie kannte. Sie stülpte mir nicht ihre Dunkelheit wie eine Tüte über den Kopf. Nein, es war anders. Ich wurde die Mom, die sie vor vielen Jahren war. Auch Dad spürte es, das merkte ich. Vielleicht hätte der Moment länger gedauert, wenn Edie nicht ständig geredet und Druck gemacht hätte. Sie wollte mich wieder zu der anderen Mutter zurückbringen. Der in der Nervenklinik, die mich gefesselt und geviertelt als Opfer brauchte.“ (Seite 116)

Edie fühlt sich schuldig. Sie denkt, dass sie die Einweisung der Mutter in die Klinik hätte verhindern können. Edie möchte nicht bei ihrem Vater sein und versucht die Schwester zu überreden mit ihr gemeinsam die Mutter aus der Klinik zu holen. Doch Mae fühlt sich wohl beim Vater. Also macht sich Edie allein auf den Weg nach Hause. Doch Marianne will ihre Tochter nicht sehen, fragt mach Mae. Edies Eifersucht flammt wieder auf. Immer will Marianne nur Mae um sich haben und stößt Edie von sich.

„Was Mariannes Tochter allerdings nicht mitbekam und wahrscheinlich nie erfahren wird, was, dass Marianne nach ihrem Besuch immerzu weinte, leise, damit die Schwester es nicht mitkriegte. In diesem Moment begriff ich Mariannes Verhalten – sie folget einem Urinstinkt und wollte ihre Tochter von sich fernhalten und so für ihre Sicherheit sorgen, auch wenn sie dem Mädchen damit das Herz brach.“ (Seite 241)

WOW … was für ein DEBÜT!!! Ich bin immer noch hin und weg. Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich dieses Buch so sehr gefesselt, dass ich es an einem Tag gelesen habe. Die Geschichte hat einen unglaublichen Sog und das obwohl sich Abgründe auftun. Doch von Anfang an …

In kurzen Kapitel lässt die Autorin verschieden Menschen zu Wort kommen. Das sind neben Edie und Mae, Marianne und Dennis, auch Weggefährten der vier. Edie und Mae sind jedoch die Erzähler, die den größten Raum einnehmen. Apekina bedient sich verschiedener stilistischer Mittel, unter anderem Tagebucheinträge, medizinische Berichte etc., welche die Geschichte noch komplexe machen.

Mich hat die Geschichte sehr berührt, aber auch fassungslos gemacht. Da sind zwei Kinder, die um die Liebe der Eltern buhlen. Edie, um die ihrer Mutter und Mae um die ihres Vaters. Und beide werden nur für die eigenen Zwecke der Eltern benutzt. Das hat mich echt fassungslos und wütend gemacht. Was mich dann aber wirklich erschüttert hat, ist wie weit Kinder gehen würden, um die Liebe der Eltern zu bekommen.

Dies ist keine leichte Geschichte und an vielen Stellen tun sich Abgründe auf. Jeder einzelne Protagonist versucht gegen seine inneren Dämonen anzukämpfen. Gegen Wut, Trauer, seelische Verletzungen und Selbstzweifeln … und keinem gelingt es wirklich aus dieser selbstzerstörerischen Spirale auszubrechen.

„Heute kann ich leicht sagen, das ich wünschte, ich wäre netter zu meiner Schwester gewesen, aber damals war mir das noch nicht möglich. Unser Vater hatte mir gerade das Herz gebrochen, unsere Mutter hatte sich gerade umgebracht , und ich hatte mich gerade verbrennen wollen. Ich konnte es mir nicht leisten, großzügig zu sein.“ (Seite 343)

Ein grandioses Debüt, das noch lange nachwirkt! Unbedingt lesen!!!

 

 

 

 

All das zu verlieren von Leila Slimani

Luchterhand
Fester Einband
224 Seiten
Erscheinungsdatum 13.05.2019
ISBN: 9783630875538
Preis: 22,00 Euro

Klappentext
Nach außen hin führt Adèle ein Leben, dem es an nichts fehlt. Siearbeitet für eine Pariser Tageszeitung, ist unabhängig. Mit ihrem Ehemann, einem Chirurgen, und ihrem kleinen Sohn lebt sie in einem schicken Viertel, ganz in der Nähe von Montmartre. Sie reisen , sie fahren übers Wochenende ans Meer. Dennoch stellt Adèle dieses Leben nicht zufrieden. Gelangweilt eilt sie durch die grauen Straßen, trifft sich mit Männern, hat Sex mit Fremden. Sie weiß, dass ihr die Kontrolle entgleitet. Sie weiß, dass sie ihre Familie verlieren könnte. Trotzdem setzt sie alles aufs Spiel.

∗∗∗∗∗

„Adèle hat Lucien aus demselben Grund bekommen, aus dem sie geheiratet hat. Um dazuzugehören und wie die anderen zu sein. Indem sie Ehefrau und Mutter wurde, hat sie sich mit einer schützenden Aura der Achtbarkeit umgeben, die ihr keiner mehr nehmen kann. Sie hat sich einen Zufluchtsort für die angsterfüllten Abende geschaffen, einen bequemen Schlupfwinkel für die Tage der Ausschweifung.“ (Seite 34)

Adèle hat eigentlich alles … einen tollen Mann und einen Sohn den sie sich gewünscht hat. Sie lebt in einem schicken Pariser Vorort, ist frei Journalistin und unabhängig. Und doch fehlt ihr der gewisse Kick im Leben. Diesen Kick holt Adèle, in dem sie mit wildfremdem Männern harten Sex hat. Immer und immer wieder. Härter und härter. Aber auch das erfüllt sie nicht wirklich. Sie will mehr …

Als ihr Mann dahinter kommt, bringt er sie aufs Land, weit weg von Paris und ihren Affären. Er sperrt sie in einen goldenen Käfig, will sie ganz allein für sich. Doch eines Tages ergibt sich für Adèle die Möglichkeit nach Paris zu reisen. Kann sie sich dem Sog vergangener Zeiten wirklich entziehen?

„Sie hatte sich eingeredet, dass ein Kind sie heilen würde. Dass die Mutterschaft der einzige Ausweg aus ihrem Überdruss wäre, die einzige Lösung, um ihr die ewige Flucht nach vorne endgültig abzuschneiden. Sie hatte sich in die Schwangerschaft gestürzt, wie ein Patient in eine zwingend erforderliche Behandlung eingewilligt. Sie hatte dieses Kind gemacht oder besser, es wurde ihr gemacht, ohne dass sie Widerstand leistete, in der verrückten Hoffnung, es würde ihr Linderung bringen.“ (Seite 35/36)

Ach je … was für eine arme Gestalt. Adèle hat mir von Anfang an nur leid getan. Beim Lesen konnte ich ihrer innere Zerrissenheit spüren. Auf der einen Seite will sie das bürgerliche und spießige Leben. Will verheiratet sein und Kinder haben. Will auf dem Land leben und für einen Job in die Stadt fahren. Aber warum? Weil das Leben es so „vorschreibt“? Weil das so ist?

Doch in diesem ach so bürgerlichen Leben fehlt ihr der Kick, das gewisse Etwas … Liebe, Begehrt werden, aber auch Kontrolle und Macht. Das holt sie sich bei ihren Abenteuern, dem harten Sex mit den fremden Männern. Und wenn sie dann nach einer solchen Nacht, voller blauen Flecke und Blutergüsse nach Hause zurück kehrt, fühlt sie sich schmutzig und verlogen. Schwört sich selber damit aufzuhören und doch zieht sie am selben Tag wieder los, um die Männer zu treffen.

„Sie hat es immer gemocht Hunger zu haben. Zu spüren, wie man schwächer wird, schwankt, zu fühlen, wie der Magen sich zusammenzieht, und dann zu siegen, kein Verlangen mehr zu haben, darüberzustehen. Sie hatte ihrer Magerkeit kultiviert wie eine Lebenskunst.“ (Seite 72)

Slimanis hat mich schon mit ihrem ersten Roman „Dann schlaf auch du“ ans Buch gefesselt und begeistert. Mit ihrem neuen Roman gelingt dies wieder. Viele Szenen im Buch sind echt grenzwertig, verdeutlichen aber wie sehr Adèle in ihrer Sucht, ja man muss es wirklich Sucht nennen, gefangen ist. Mit jedem Satz mehr tut mir diese Frau einfach nur leid. Ich möchte ihr eine Hand reichen und sagen, es wird alles gut. Doch wird es das? Kann es das?

Was für ein gewaltiges Buch. Slimani erzählt schonungslos und sprachgewaltig. Sie traut sich an Tabuthemen heran und das mit einer wahnsinnigen Intensität. Ein Buch das berührt und bleibt …

Bitte mehr davon.

Chapeau ♥♥♥

Die verborgenen Stimmen der Bücher von Bridget Collins

Rütten & Loening Berlin
Fester Einband
467 Seiten
Erscheinungsdatum:
15.02.2019
ISBN: 9783352009211
Preis: 22,00 Euro

Klappentext
Emmett Farmer arbeitet auf dem Hof seiner Eltern, als ihn ein Brief erreicht. Er soll bei einer Buchbinderin in die Lehre gehen. Seine Eltern, die wie alle anderen Menschen Bücher aus ihrer Welt verbannt haben, lassen ihn ziehen – auch weil sie glauben, dass er nach einer schweren Krankheit die Arbeit auf dem Hof nicht mehr leisten kann.
Die Begegnung mit der alten Buchbinderin beeindruckt den jungen Mann, obwohl Seredith ihn nicht in das Gewölbe mit den kostbaren Büchern lässt. Menschen von nah und fern suchen sie heimlich auf. Emmett kommt ein dunkler Verdacht: Liegt ihre Gabe darin, den Menschen ihre Seele zu nehmen? Dann stirbt die alte Buchbinderin, und er erkennt, welch Wohltäterin sie – und in welche Gefahr er selbst geraten ist. Denn er hat seine eigene Geschichte, die ihn in den Abgrund reißen könnte, sollte sie je ans Licht gelangen.

∗∗∗∗∗

„“Du bindest … Menschen“, sagte ich. Mein Hals war so trocken, dass das Sprechen schmerzte; aber das Schweigen schmerzte mehr. „Du machst aus den Leuten Bücher.“
(…)
Seredith wandte sich ab und ließ das Messer in die offene Schublade neben mir fallen. „Erinnerungen“, sagte sie schließlich. „Nicht Leute, Emmett. Wir nehmen Erinnerungen und binden sie. Was die Leute an Erinnerungen nicht ertragen können. Womit sie nicht leben können. Wir nehmen diese Erinnerungen und verwahren sie an einem Ort, wo sie keinen Schaden mehr anrichten können. Das ist alles, mehr sind Bücher nicht.““ (Seite 77-79)

Als Leserin befinde ich mich in einer Zeit, in der Bücher etwas gefährliches sind. Man fürchtet sich davor. und auch Emmet macht keine guten Erfahrungen mit ihnen. Als er schwer erkrankt, und den Hof seiner Eltern nicht übernehmen kann, beschließen die Eltern ihn in eine Buchbinderlehre zu stecken, da er scheinbar die Fähigkeiten dazu hat. In der Lehre erfährt er dann in Teilen was es mit dem geheimnisvollen Buchbinden auf sich hat. Als Seredith dann plötzlich stirbt, muss Emmet sich all den Gefahren stellen, denen er jetzt als Buchbinder ausgesetzt ist. Und dabei muss er feststellen, dass auch er ein ganz besonderes Buch ist …

Dieses Buch habe ich an einem Tag gelesen. Es hat einen wahnsinnigen Sog. Je tiefer man in die Geschichte eintaucht, desto spannender wird sie und immer wenn ich dachte jetzt ist das Geheimnis gelöst, ploppte eine neue Überraschung auf.

Dieses Buch hat einfach alles …. Fantasy, Magie und Liebe in einer wilden und wundervollen Landschaft die düster und geheimnisvoll ist … mit Charakteren die leidenschaftlich und absolut authentisch beschrieben sind. Obwohl sich das Buch sehr gut lesen lässt, ist die Sprache auch etwas besonders … sie ist sehr intensiv. Ich hatte an vielen Stellen das Gefühl, dass ich Teil der Geschichte bin.

Was für ein tolles Buch. Die Autorin hat es geschafft mich zu fesseln, mich an einem regnerischen Tag in eine wundervolle Welt der Bücher zu entführen, aus der ich nur langsam wieder auftauchen wollte.

Unbedingt lesen!!!

„“Warte mal, du meinst, du hast noch nie etwas von Romanen gehört?“, fügte er mit einem Aufblitzen von Spott hinzu. „Das sind keine echten Bücher. Die werden geschrieben wie Zeitschriften. In ihnen sind keine echten Menschen oder echte Erinnerungen gebunden. Die sind erfunden.““ (Seite 281)

Abendrot von Kent Haruf

Diogenes
Fester Einband
480 Seiten
Erscheinungsdatum:
23.01.2019
ISBN: 9783257070453
Preis: 24,00 Euro

Klappentext
Das Leben ist rau in Holt, Colorado. Es gehorcht den Rhythmen der Natur und den ungeschriebenen Gesetzen einen Kleinstadt. Hier kann man sich nicht aus dem Weg gehen, hier gibt es aber auch eine Gemeinschaft, die einen nicht im Stich lässt, wenn man einsam oder verzweifelt ist. Und jederzeit ist die Begegnung möglich, die alles verändert.
Betty und Luther versuchen am Existenzminimum, ihre Familie zusammenzuhalten. DJ und Dena, elf Jahre alt, schaffen sich in einem verlassenen Haus ein Ersatzzuhause. Und die großartigen McPheron-Brüder samt ihrer Ziehtochter Victoria treten wieder auf. Ein paar einsame Seelen, die trotz aller Unterschiede zueinanderfinden. Das ist der Zauber von Holt, Colorado.

∗∗∗∗∗

Vor ca. zwei Jahren habe ich mein erstes Buch von Kent Haruf gelesen. Es war „Unsere Seelen bei Nacht“ Was für ein wunderschönes Buch. Ich war sofort schockverliebt in die Sprache, die Atmosphäre und die Geschichte. Dieses Buch ist ein Buch für alle Fälle … wenn man traurig ist … um Mut zu machen … eine Liebesgeschichte …. eine Familiengeschichte … einfach etwas fürs Herz. Ich verkaufe dieses Buch sehr oft im Büchergarten und die Rückmeldungen waren bisher immer (!!!) nur positiv.

Danach kam, ein Jahr später Harufs zweites Buch „Lied der Weite“ heraus. Auf den ersten Blick ein ganz anderes Buch. Einzige Ausnahme … es spielt ebenfalls in Holt. Und das ist eine Art „Markenzeichen“ von Haruf … seine Bücher spielen alle in Holt, einer Kleinstadt in Colorado. Er hat in seinen Büchern einen kleinen Kosmos innerhalb seiner fiktiven Stadt Hold erschaffen. In Lied der Weite lerne ich ganz viele Menschen kennen. Die Brüder McPhereon und deren spätere Ziehtochter Victoria, die Lehrerin Maggie und ihren Kollegen Guthrie mit seinen beiden Kindern, und noch einigen mehr. Es geht in diesem Buch um den Zusammenhalt, den Sinn der Gemeinschaft und das Familie nicht immer Blutsverwandte sein müssen.

Und jetzt erschien „Abendrot“ … oh wie sehr habe ich mich darauf gefreut. Und was soll ich sagen …. es war wie bei einem Wiedersehen mit alten Freunden. Denn genau das passiert in diesem Buch. Ich treffe in Holt auf die Brüder McPherson … auf Victoria und ihre kleine Tochter … auf Maggie und Gutherie. Ich treffe aber auch auf ein paar neue Figuren, wie zum Beispiel Luther und seine Familie. Eine Familie, die am Existenzminimum lebt und versucht mit dem Leben und seinen Herausforderungen klar zu kommen. Da ist DJ, der sich rührend um seinen Gro0vater kümmert und ohne den er längst in einem Waisenhaus wäre. Und da ist Rose, die Sozialarbeiterin, die sich um eben diese Menschen kümmert. Auch in diesem Buch geht es um Menschlichkeit, die Fähigkeit sich für andere einzusetzen, auch wenn man dabei an seine eigenen Grenzen stößt.

In Harufs Büchern zu lesen ist wie nach Hause kommen. Man schlägt das Buch auf und taucht sofort ein, in diesen kleinen besonderen Kosmos von Holt. Ich habe beim Lesen immer das Gefühl, dass ich Teil davon bin. Und das bin ich … irgendwie, denn die Schicksale eines jeden einzelnen gehen mir ans Herz. Gerade in „Abendrot“ habe ich sehr geweint, als ein mir Vertrauter stirbt.

In meiner Recherche habe ich gesehen, das diese drei Bücher aus einer Reihe sind. Das „Unsere Seelen bei Nacht“ der fünfte und letzte Band ist. „Lied der Weite“ der erste und „Abendrot“ der zweite. Jetzt wünsche ich mir natürlich sehr, dass die anderen beiden Bände auch noch übersetzt und veröffentlicht werden. Es wäre so schön wieder nach Holt zu reisen, in diesen ganz besonderen Kosmos der Menschlichkeit und der Liebe … oder ganz einfach … nach Haus zu kommen. ♥♥♥

Das Leuchten in mir von Grégoire Delacourt

Atlantik Verlag
Fester Einband
272 Seiten
Erscheinungsdatum:
04.10.2018
ISBN: 9783455002737
Preis: 20,00 Euro

Rückentext
Emma ist vierzig und seit achtzehn Jahren glücklich mit Olivier verheiratet. Sie haben drei Kinder, das Leben könnte nicht besser sein. Doch dann trifft Emmas Blick auf den von Alexandre. Sie weiß sofort Bescheid. Für ihn wird sie alles riskieren, alles aufgeben, koste es, was es wolle.

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“ Meine bisherigen Tage waren wie die kleinen Kieselsteine eines wohlgeordneten Lebens gewesen, eines alten Versprechens, vorgezeichneten Bahnen zu folgen, vorgezeichnet von anderen, die an perfekte Wege oder wenigstens an tugendhafte Lügen glaubten. Meine künftigen Tage versprachen stürmisch zu werden. Und einer von ihnen erschütternd.“ (Seite 13)

Emma ist vierzig und schon sehr lange mit Olivier verheiratet. Die Beiden haben schon viel erlebt. Doch eines Tages sieht Emma Alexandre. Die beiden wechseln kaum Worte, doch schnell ist ihnen klar, dass sie ihre jeweiligen Partner verlassen werden, um zusammen glücklich zu werden. Am Tag als sie zusammen weggehen wollen geschieht ein Unglück …

„Ich war die Fröhlichkeit. Ich war die Melancholie. Ich war das Schmachten, eine Hauptpore und der Äther. Ich war die Lust. Ich war die Liebe. Ich war ohne Ende.“ (Seite 98)

„Ich weiß jetzt, dass die Trauer eine Liebe ist, die keinen Ort mehr hat.“ (Seite 118)

„An manchen Tagen saß ich im Sand und weinte. Dann rannte ich ins Meer, um meine Tränen zu ertränken. Seitdem weiß ich, warum das Meer salzig ist.“ (Seite 128)

Was für eine dramatische und hinreißende Liebesgeschichte. Mir hat vor allem die Erzählweise sehr gut gefallen. Sie ist so sinnlich, erotisch und zärtlich, dass ich gar nicht glauben konnte das hier ein Mann schreibt. Dieses Buch ist irgendwie, wie ein Rausch von dem man nicht genug bekommen kann.

Ich habe bisher zwei Bücher von Delacourt gelesen. Die mir sehr gut gefallen haben. Doch dieses Buch übertrifft alles. Selten habe ich ein Buch gelesen, in dem ein Mann so zärtlich über eine Frau schreibt, und über das Leben und die Liebe sinniert.

Unbedingt lesen!

„Unser Treiben auf Erden ist so kurz, von so vernichtender Kürze, dass es nicht verdient, durch falsche Liebe, Wutausbrüche oder Schrecken zusätzlich verkürzt zu werde: Weil man keine Zeit hat, muss man lieben, so sehr man kann. Und man muss vergeben und Vergebung erfahren, wenn man leben will.“ (Seite 163)

Lempi, das heißt ja Liebe

Carl Hanser
Fester Einband
224 Seiten
Erscheinungsdatum:
23.07.2018
ISBN: 9783446260047
Preis: 21,00 Euro

Klappentext
Der junge Bauernsohn Viljami hat sich in Lempi, die Tochter des Ladenbesitzers aus der kleinen Stadt Rovaniemi, verliebt. Hals über Kopf heiraten sie, und Lempi, der das Landleben fremd ist, zieht zu Viljami auf den Hof. Um sie zu entlasten und über die Trennung von ihrer Zwillingsschwester hinwegzutrösten, stellt ihr Mann die Magd Elli ein, die insgeheim glühend eifersüchtig ist und selbst gern an seiner Seite wäre. Nach einem einzigen glücklichen Sommer wird Viljami zum Kriegsdienst eingezogen. Als er zurückkehrt, ist die Stadt zerstört und Lempi verschwunden. Dass sie wie ihre Schwester Sisko mit einem Wehrmachtsoffizier nach Deutschland gegangen sein soll, kann er sich nicht vorstellen. Viljami, die Magd Elli und Sisko erinnern sich an Lempi – aus ihrer jeweils eigenen, sehr individuellen Perspektive.

∗∗∗∗∗

„Im Spiegel sah ich zu, wie mein Finger über deine Wange wanderte und über den Rand Deiner Lippen, wie dein Blick ernst wurde und Deine Augen glühten. So war das damals in diesem Sommer und Herbst, ich bekam dieses Glück geschenkt, an das ich heute nicht mehr zurück denken mag. Die Erinnerung an diese Zeit reibt mich auf und reißt mich in Stücke. Jetzt zittern meine Hände. In meiner Faust steckt grünes Moos, aber in meiner Seele nur Leere, die nie verschwinden wird und schmerzt und hallt.“ (Seite 22)

Viljami ist ein einfacher Bauernsohn. Hin und wieder fährt er in den Ort, um einzukaufen. Er geht auch immer in den Laden, der Lempis Vater gehört. Viljami ist in Lempi verliebt, doch er traut sich nicht sie anzusprechen. Eines Tages spricht Lempi ihn an und fortan sind die beiden ein Paar. Schon nach kurzer Zeit heiraten die beiden. Da Lempi das Leben auf dem Land nicht gewohnt ist, stellt Viljami eine Magd ein, die Lempi bei der täglichen Arbeit helfen soll. Viljami und Lempi sind glücklich. Doch dann kommt der Krieg und Viljami wird eingezogen. Lempi ist schwanger. Kurz vor Ende des Krieges erfährt er, das Lempi angeblich mit einem Deutschen nach Deutschland geflohen ist, und sein Kind bei der Magd gelassen hat. Viljami möchte nicht nach Hause zurück. Ein Heim ohne Lempi, aber mit einem Kind das er nicht kennt …

„Mit jedem meiner Atemzüge wirst du ein wenig mehr Geschichte, entweichst in die Vergangenheit und entfernst dich von mir, und das ist falsch, nach all dem. Wir hatten dieses Glück, und weil wir die Zukunft nicht kannten, nahmen wir an, es würde dauern.“ (Seite 51)

In diesem ersten Kapitel erzählt Viljami aus seiner Sicht das Geschehene. In jedem Satz spürt man die Sehnsucht nach Lempi und Viljamis Verzweiflung über den Fortgang von Lempi. Ich erlebe seine innere Zerrissenheit … eigentlich will er kein Leben ohne Lempi, aber er hat die Verantwortung für das Kind. Was soll er machen …

„Wie du mir erzählt hast, was du aus Büchern weißt und was man alles tun kann, damit die Liebe lebendig bleibt, ganz selbstverständlich hast du darüber gesprochen. Immer wieder fällt mir das ein, dabei ertrage ich die Erinnerung keine Sekunde, denn all das ist vergangen und kommt nicht wieder.“ (Seite 59)

Elli war schon immer ein wenig verliebt in Viljami. Umso mehr freut sie sich, als er sie bitte auf seinem Hof als Magd zu arbeiten. Allerdings stört es sie, dass ausgerechnet für/ mit Lempi arbeiten soll, der verzogenen Kaufmannstochter. Doch Elli macht das Beste daraus, Hauptsache sie kann in Viljamis Nähe sein. Sie hilft Lempi bei der Entbindung und bleibt mit dem Kind allein auf dem Hof nachdem Lempi fort ist. Sie hofft und wartet darauf dass der Krieg zu Ende geht und Viljami zurück kommt.

„Die Tür ging auf, ein Paar trat ein, und erst habe ich Viljami gar nicht erkannt, nicht einmal gesehen, du hast allen Raum eingenommen. Manche Leute sind so, verbrauchen sämtlichen Sauerstoff. Umgeben sich mit einem seltsamen Licht, und sobald sie in die Stube treten, werden alle anderen unsichtbar, und unsereins bleibt im Dunkeln. Ihr Licht strahlt nicht auf andere ab, nicht in die dunklen Ecken und Winkeln, und aus ihrem Licht heraus sehen sie nicht, dass auch wir Menschen sind, mit Wünschen, Angst und Trauer, oder mit verborgener Trauer. Wenn wir fehlen, merkt das keiner.“ (Seite 98)

Im Zweiten Kapitel erzählt Elli über ihr Zusammenleben mit Lempi und Viljami. Dabei lässt sie kein gutes Haar an Lempi. Als Leserin spüre ich den Hass geradezu, den Elli gegen Lempi hegt. Hier passieren einige Dinge, die dem Buch/ der Geschichte eine vollkommen neue Wendung geben.

„So warst du, völlig anders als ich. Natürlich hat man über uns geredet. Überhaupt, wo gab’s denn sowas: Zwillinge. Gleich bei der Geburt bekam ich die brave Rolle zugeteilt und auch den unbedeutenderen Namen, Sisko, Schwester. Mein ganzes Leben wuchs ich nicht über mich hinaus. Ich hatte nicht das Zeug, so frei zu sein wie du.“ (Seite 136)

Sisko ist die Zwillingsschwester von Lempi. Die Zweitgeborene. Die beiden verstehen sich gut, obwohl Sisko immer ein wenig im Schatten der Schwester steht. Nachdem Lempi geheiratet hat, wollte Sisko eigentlich studieren. Doch nachdem der Krieg ausgebrochen ist kommt alles anders. Sie verliebt sich in einen Deutschen und geht mit ihm nach Deutschland. Doch in Deutschland angekommen misshandelt dieser Sisko und lässt sie links liegen. Allein in Deutschland versucht Sisko sich durchzuschlagen. Doch letztendlich geht sie nach Finnland zurück. Dort wird sie interniert und ohne Ende verhört. Irgendwann kommt sie frei …

„Ich beneidete dich um deine Eheschließung, um die verzauberten Blicke deines Mannes, um das Versprechen, das ihr euch gabt. (…) Ich blieb zurück. Alles hatte sich so entwickelt, wie es vorher gewesen war: Ich war die Vernünftige, und du die zu Abenteuern Angestiftete.“ (Seite 159)

Im dritten und letzten Teil erfahre ich etwas über die beiden Schwestern. Ihr Leben und ihr Miteinander bis zu dem Tag an dem Lempi und Viljami heiraten. Dann wird Siskos Leben weiter erzählt. Ein Leben voller Hoffnung und Sehnsucht … nach Liebe und der Schwester. Auch hier passieren unerwartete Dinge, die dem Buch noch einmal eine vollkommen andere Wendung geben.

„An vielen Stellen kann man überlegen und nochmal zurück. Man hat die Möglichkeit, an die letzte Kreuzung zu gehen und sich anders zu entscheiden. Wenn man aber so abscheulich behandelt und grundverlassen erlebt hat und erfährt, dass von nirgends eine Antwort kommt, so sehr man auch sucht, dann hilft nichts mehr. Man mag sich noch umdrehen, aber die Kreuzung ist verschwunden. Es bleibt einem nur, den bisherigen Weg fortzusetzen und zu vergessen, dass alles einmal ganz anders war, dass wir zu zweit lebten und die Welt gut war.“ (Seite 189)

Eine unglaubliche Geschichte, die während des Zweiten Weltkriegs in Finnisch Lappland spielt. Im Nachwort der Übersetzerin finde ich Hinweise auf die Rolle von Finnisch Lappland während des Zweiten Weltkriegs mit Deutschland. Die Beziehung zwischen den Ländern war sehr wechselhaft. Zuerst Freunde, später dann eher Feinde.

Dieses Buch ist unglaublich intensiv und mitreißend. Die Autorin schafft es in den einzelnen Kapiteln die Gefühle ihrer Protagonisten lesbar zu machen. Ich konnte so sehr Viljamis Liebe und Verlust spüren, wie auch Ellis Hass und Siskos Sehnsucht. Selten habe ich ein Buch gelesen, dass mich von der ersten Seite an so begeistern konnte. Auch die Wendungen haben mich immer unerwartet getroffen und begeistert.

Einfach nur grandios und ein weiteres Highlight in diesem Lesejahr!!! Unbedingt lesen!!!

Die Tragödie von Idaho

Hanser Berlin
Fester Einband
384 Seiten
Erscheinungsdatum:
19.02.2018
ISBN: 9783446258532
Preis: 24,00 Euro

Klappentext
An einem einzigen Tag hat Wade alles verloren, was er liebte. May, die kleine Tochter ist tot, ihre ältere Schwester June verschollen, seine Frau Jenny zu lebenslanger Haft verurteilt im Gefängnis. Und nun raubt eine früh einsetzende Demenz ihm auch die Erinnerung. Bald wird er nicht mehr wissen, welche Tragödie sich an jenem Augusttag im Wald abgespielt hat, wie seine Töchter hießen und seine Frau. Auch Ann, deren Liebe groß und wahrhaftig genug ist, um zu Wade in das schrecklich leere Haus im Bergland von Idaho zu ziehen, wird nie den Hergang der Tat erfahren. Aber mit jedem Tag, den sie mit Wade teilt, begibt sie sich tiefer in die Erkundung dessen, was damals geschehen ist, fügt Bruchstücke und Splitter zusammen, und nimmt schließlich Kontakt zu Jenny auf.

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„Sie lernte, mit seinen Aussetzern umzugehen. Manchmal spürte sie auch ohne ein Wort von ihm, dass es wieder so weit war. An einem sonnigen Herbsttag lag sie neben ihm auf der Wiese, und während er döste, spürte sie förmlich, wie sein altes Leben und seine Erinnerungen von seiner Haut abstrahlten und ihn verließen. Alles außer ihr. Auch sie streifte ihr altes Leben ab, um sein Gegenstück zu werden.“ (Seite 28/ 29)

An einem sonnigen Tag arbeiten Wade, seine Frau Jenny und die beiden Töchter May und June im Wald. Sie machen Holz im Wald und stapeln dieses auf dem PickUp. Doch plötzlich ist nichts mehr wie es war, denn Jenny hat May mit der Axt erschlagen und June ist verschwunden. Was ist passiert?

Ein Jahr später ist Wade mit Ann verheiratet. Sie haben sich im Klavierunterricht kennen und lieben gelernt. Ann stellt bei Wade eine beginnende Demenz fest. Doch bevor er alles vergisst, versucht sie Licht in das Drama zu bringen. Warum brachte Jenny ihre Tochter um? Wo ist June?

„Eine liebende Mutter, praktisch verschmolzen mit ihrem Kind (…). Hass und Liebe, vollkommen vermischt in jenen Augenblicken eines Flüsterns, wenn es auf die Worte nicht mehr ankommt, das Baby schon halb schläft und man es auf dem Klang der eigenen Stimme die letzten Meter ins Traumland tragen kann. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Man kann es singen, so sanft man will, die Worte fletschen trotzdem die Zähne. Gott will nicht immer.“ (Seite 101)

Als ich anfing zu lesen, wusste ich nicht so recht, was mich erwartet. Ich war verwirrt, weil die Autorin ziemlich in der Zeit und der Geschichte springt, da sie nicht chronologisch erzählt. Eine echte Herausforderung. Ich habe mir sogar teilweise am Anfang Zeitabfolgen aufgeschrieben. Doch je weiter ich in die Geschichte eingetaucht bin, desto besser/ interessanter fand ich diese Art der Erzählung. Warum? Weil sie mir immer wieder andere Aspekte/ Blickwinkel zeigte.

Die Tragödie wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Jede*r Protagonist*in erinnert sich an andere Dinge und somit setzt sich nach und nach das Puzzel zusammen.

Ruskovich hat hier einen ganz besonderen Roman geschrieben. Wade verliert nach und nach durch seine Demenz die Erinnerung an die Tragödie, obwohl er sich immer an sie bzw. an seine Kinder erinnern möchte. Und Jenny, seine erste Frau, die die Tochter umbrachte, möchte vergessen und wird tagein tagaus im Gefängnis daran erinnert, welche Tat sie begangen hat.

„Sie denkt an Wade. Er hat seine Töchter verloren, aber auch die Erinnerung daran, sie zu verlieren. Nur seinen Verlust, den hat er nicht verloren. Der Schmerz lebt in seinem Körper weiter wie seine Unterschrift in seiner Hand.“ (Seite 240)

Die Demenz und das Vergessen an sich stehen in diesem Buch im Vordergrund. Ein für mich sehr gelungenes Debüt der Autorin Emily Ruskovich.

Auch wenn man sehr konzentriert lesen muss, lohnt sich dieses Buch auf jeden Fall!!!

Reichtum der Gedanken

Luchterhand
Fester Einband
280 Seiten
Erscheinungsdatum:
12.03.2018
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 9783630875187

Klappentext
Hamburg, 1964. Antonia und Edgar scheinen wie füreinander gemacht. Sie teilen den Traum von einer Zukunft fern von ihrer Herkunft. Im Krieg geboren und mit Härte und Verdrängung aufgewachsen, wollen sie sich entwickeln, die Welt kennenlernen, anders leben und lieben als ihre Eltern. Edgar ergreift die Chance, für eine Außenhandelsfirma ein Büro in Hongkong aufzubauen. Toni soll folgen, sobald er Fuß gefasst hat. Nach einem Jahr der Vertröstungen löst Toni die Verlobung. Sie will nicht mehr warten und hoffen, sondern endlich weiterleben. Tonis und Edgars Leben entwickelt sich auseinander, doch der Trennungsschmerz zieht sich wie ein roter Faden durch beide Biografien. Toni lebt in dem Konflikt zwischen ihren Idealen von Freiheit und Unabhängigkeit und dem Wunsch, sich zu binden, um Edgar zu vergessen.
Fünfzig Jahre später, nach dem Tod ihrer Mutter, fragt sich Tonis Tochter: War ihre Mutter gescheitert oder lebte sie, wie sie es sich gewünscht hat, selbstbestimmt und frei? Wer war dieser Mann, den sie nie vergessen konnte? Die Tochter will ihm begegnen, ein einziges Mal.

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„Beschränkt auf diese vier Wände zu sein, verfolgt von den Gedanken an das Leben da draußen, ich versuche, es mir vorzustellen. Gedanken an Spaziergänge am Strand, der mit dem Fahrrad in weniger als einer halben Stunde zu erreichen wäre; Gedanken an Autofahrten, um sich ein neues Buch zu kaufen, um ins Theater oder Kino zu gehen; Gedanken an Dinge, die selbstverständlich gewesen, doch zuletzt nicht mehr möglich gewesen waren, an Freundschaften, die deshalb schwerfällig geworden und schließlich verloren gegangen waren. Gedanken an das eigene Kind. Das Warten auf einen Anruf, das Warten auf eine Mail von diesem Kind. Gedanken an die Vergangenheit, an eine Frau Anfang zwanzig, die in einem Zimmer zur Untermiete gewohnt hat, ein neu gekauftes Cocktailset im Regal, einen Plattenspieler neben dem Sofa, einen Stapel Bücher neben dem Bett, die darauf wartet, dass ihr Besuch an der Tür klingelt.“ (Seite 43)

Antonia, Toni genannt, ist tot. Ihre Tochter, die Ich-Erzählerin räumt nach dem Tod der Mutter die Wohnung nach und nach aus. Dabei fallen ihr Fotos und Tagebucheinträge der Mutter in die Hand.

Toni war eine selbstbewusste Frau, die ihren Weg ging. In den 60er lernt sie Edgar kennen, ihre große Liebe. Die beiden sind voller Pläne für die Zukunft. Sie wollen reisen, leben … anders als ihre Eltern, die vom Krieg geprägt sind. Es scheint als könne die beiden nichts aufhalten. Doch dann geht Edgar nach Hongkong. Toni soll bald nachkommen. Doch dies geschieht nie. Toni löst ihre Verlobung und versucht ein Leben ohne Edgar zu leben. Sie heiratet mehrfach und bekommt eine Tochter. Doch ihre große Liebe Edgar kann sie nie vergessen. Sie trifft ihn sogar Jahre später noch einmal, doch dieses Treffen verläuft anders als Toni es sich vorgestellt hat.

Nun sitzt Tonis Tochter im Haus der Mutter und versucht das Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren. Was ist damals passiert? Wieso haben Toni und Edgar nie zueinander gefunden? Was hat diese Liebe auseinandergebracht?

„Die Gegenwart ist das Rohmaterial, aus dem die Zukunft geformt wird.“ (Seite 140)

Kennt ihr dieses Gefühl, wenn einem kalt ist, und man sich eine dicke Decke umlegt? Genau so erging es mir mit diesem Roman. Schon nach wenigen Seiten hatte ich das Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Ich habe mich in diese Geschichte um Toni und Edgar fallen lassen. Bilkaus Sprache ist einfach grandios. Die Ich-Erzählerin erinnert und konstruiert das Leben ihrer Mutter mit so viel Liebe und Wärme, das ich gar nicht mehr daraus auftauchen wollte. Bilkau erzählt von einer großen Liebe, von den Ängsten und dem Verlust einer großen Liebe, von Neuanfängen die immer wieder irgendwie scheitern und der großen Frage … hatte Toni das Leben, das sie sich gewünscht hat?

Aber es ist nicht nur Tonis Leben, das hier reflektiert wird. Es geht auch um das Leben der Ich-Erzählerin, die selbst Mutter ist und der Auszug der Tochter steht kurz bevor, um Beziehungen, und das diese gepflegt werden müssen, egal ob Ehe oder Mutter-Tochter-Beziehung.

Irgendwann kommen wir alle an diesen Punkt, an dem wir uns fragen, haben wir das Leben gelebt, das wir leben wollten/ uns gewünscht haben? Das Leben ist sicherlich kein Wunschkonzert oder Ponyhof, aber wir haben jeden Tag die Chance das Beste aus unserem Leben zu machen und es ist nie zu spät unsere Träume zu leben.

„Eines unserer letzten langen Telefonate. Ich hatte auf dem Sofa gelegen, allein zu Hause, hatte mir Zeit genommen. Am Ende des Gesprächs sagte ich ihr, ich würde anfangen, mich vor dem Alter zu fürchten, vor dem Alleinsein. Ich rückte damit raus, dass es mir schwerfiel zu sehen, wie sie an ihre Wohnung gebunden war, dass es mich bedrückte und mir Angst machte.
„Du musst dir keine Sorgen machen“, hatte sie zu mir gesagt, mit ihrer jungen, zuversichtlichen Stimme. „Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben“.“ (Seite 241)

Ein Ehedrama

DVA
Fester Einband
150 Seiten
Erscheinungsdatum:
12.03.2018
Preis: 18,00 Euro
ISBN: 9783421048073

Klappentext
Vanda und Aldo können auf ein langes gemeinsames Leben zurückblicken, auch wenn sie nicht immer glücklich waren. Wie bei vielen Paaren erstickte auch ihre Beziehung irgendwann in Routinen. Als Aldo dann die jüngere Lidia kennenlernt, scheint die Ehe endgültig zerbrochen. Doch die neue Liebe kann die Bande, die die Kinder geknüpft haben, nicht lösen, und so kehrt Aldo nach Hause zurück. Inzwischen sind seit dem Bruch Jahrzehnte vergangen, und die Wunden der einstigen Verletzungen scheinen geheilt – bis zu jenem Tag, als die alte Narbe plötzlich schmerzhaft aufbricht …

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„Weil es für mich einfach unvorstellbar war, dass dir eine andere gefällt. Habe ich dir einmal gefallen, werde ich dir immer gefallen, davon war ich aufrichtig überzeugt. Ich war der festen Meinung, dass sich wahre Gefühle nicht ändern – erst recht nicht, wenn man verheiratet ist.“ (Seite 12)

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil kommt Vanda zu Wort. Sie schreibt und fragt in Briefen Aldo, warum er sie verlassen hat. Verlassen nach zwölf gemeinsamen Jahren wegen einer jüngeren Frau. Natürlich typisch Frau sucht sie die Fehler bei sich. Denkt und hinterfragt sich und ihr Leben. In ihrer sich steigernden Wut bezichtigt sie Aldo letztendlich als einen Versager, der nie an die Familie dachte sonder nur an sich und sein Vergnügen.

„Vielleicht war das ja mein Fehler, und ich musste mich neu erfinden, mehr sein als nur eine gute Ehefrau und vorbildliche Mutter.“ (Seite 12)

Im zweiten Teil kommt dann Aldo zu Wort. Allerdings sind mittlerweile vierzig Jahre ins Land gezogen und Aldo ist zu Vanda zurück gekehrt. Wenn man es denn so nennen kann. Denn eigentlich ist es so, das Lidia seine junge Geliebte ihn verlassen hat. Aldo hatte Vanda damals verlassen, weil er die Intuition Ehe für altmodisch erachtete. Er fand die freie Liebe á la 68ziger faszinierender und zeitgemäßer. In Rückblicken erfahre ich als Leserin wie sehr Aldo Lidia vermisst und eigentlich mit ihr zusammen sein möchte, und nicht mit der Despotin Vanda.

„Das sich die Intuition der Ehe in einer Krise befand, dass die >Familie< dem Untergang geweiht war und Treue bloß was für Spießer, war ihr egal.“ (Seite 73)

Im dritten und letzten Teil kommen die beiden Kinder zu Wort. Die sind mittlerweile erwachsen und haben das Scheitern der Ehe hautnah mitbekommen. Und sie hassen ihre Eltern dafür was sie sich selbst und den Kindern angetan haben. Es kommt zu einem großen Showdown in der Wohnung der Eltern, die die Kinder komplett verwüsten. Sie lassen ihrer Wut freien Lauf.

„>Sich verlieben< klang damals fast schon lächerlich, nach einem Überbleibsel aus dem neunzehnten Jahrhundert, und stand für die gefährliche Neigung, aneinander zu kleben.“ (Seite 76)

Mich hat dieses kleine Buch sehr berührt und erschüttert. Ich habe oft nicht verstanden, wieso Aldo und auch Vanda versuchen an etwas festzuhalten, was nicht mehr funktioniert. Mal ganz davon abgesehen ob die Intuition Ehe noch zeitgemäß ist oder nicht. Aldo wollte ein „modernes offenes Liebesleben/ Leben“, Vanda ein klassische „Vater-Mutter-Kind“ Konstellation. Aber anstatt sich darüber auszutauschen … zu sprechen, verletzten sie sich in ihrem Handeln, ohne zu bemerken wie sie auch die Kinder verletzten. Letztendlich gibt es keine Familie mehr, sondern nur noch Menschen, die verletzte wurden und mit ihren Verletzung vollkommen allein dastehen. Die Verletzungen der Kinder eskaliert letztendlich in der Zerstörung der elterlichen Wohnung. Und diese Wut der Kinder auf die Eltern hat mich richtig erschüttert.

Ein Buch das nachwirkt und Fragen offen lässt … ist eine „Ehe“ immer schützenswert, nur um der Ehe willen? Wäre es nicht besser sich einvernehmlich zu trennen um der Kinder willen?

Eine kleine Zusatzinfo noch am Ende dieser Rezension zum Autor:
Domenico Starnone ist der Ehemann der Autorin Anita Raja, von der wir wissen, dass sie unter dem Pseudonym Elena Ferrante erfolgreich veröffentlicht hat.