
Klappentext
London, 1850: Mitten im Winter findet der junge Kommissar Sam Trench im Victoriapark ein Bündel – darin liegt ein Neugeborenes. Die kleine Lily wird bei einer Pflegefamilie in Suffolk untergebracht, wo sie unbeschwerte Jahre verlebt, bis sie mit sechs ins Waisenhaus nach London muss, um zur Näherin ausgebildet zu werden. Dort herrschen strenge Regeln und die Aufseherinnen bestrafen die Mädchen hat. Als junge Frau kommt Lily bei einer Perückenmacherin unter und könnte endlich ein selbstbestimmtes Leben führen, doch eine schwere Schuld lastet auf ihr …
Sam Trench hat Lily nie ganz aus den Augen verloren, und als er der jungen Frau wieder begegnet, fühlen sich die beiden zueinander hingezogen. Lily glaubt, dass sie mit Sam endlich ein neues Leben beginnen kann – aber kann sie die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen?
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„Warum habe ich so lange und so hart dafür gekämpft, mich an einem Ort zu behaupten, der es, seit ich ihn betrat, auf meine Vernichtung abgesehen hat? Warum habe ich mich nicht schon als Kind dem Tod ergeben, denn sind Kinderbilder vom Tod nicht fantasiereich und voller fremdartiger Schönheit?“ (Seite 9)
Lily wir als Baby von dem jungen Kommissar Sam Trench in einer kalten Winternacht im Park gefunden. Er bringt das Baby in das nahegelegene Waisenhaus. Doch Lily bleibt nicht lange dort, sonder kommt in eine Pflegefamilie. Dort ist sie eine Weile glücklich, denn die Familie behandelt sie fast wie ihre eigene Tochter. Doch die Familie weiß, das Lilys Zeit bei ihnen begrenzt ist. Denn die Waisenkinder kommen immer nur bestimmte Zeit zu Pflegefamilien. Ist diese Zeit abgelaufen, gehen die Kinder wieder ins Waisenhaus zurück und die Pflegefamilien bekommen ein neues Kind.
Nach sechs Jahren muss Lily also zurück ins Waisenhaus. Dort wird sie zur Näherin ausgebildet, um dann später bei einer Perückenmacherin unter zu kommen. In dieser Zeit trifft sie dann auch Sam Trench wieder, der Mann, der sie als Baby gefunden hat. Sie verliebt sich in ihn. Doch die dunklen Schatten aus ihrem noch jungen Leben lassen Lily nicht in Ruhe und sie flieht aufs Land, dorthin wo einst ihre Zieheltern lebten. Doch kann sie hier die Vergangenheit hinter sich lassen?
„Als Lily die Stufen zu dem Gebäude hinaufstieg, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Hinter sich hörte sie die Stimmen von Kindern, die im Hof spielten, und sie dachte, wie schön der Lärm der Jungen und Mädchen war, die da draußen herumrannten und fangen spielten, als wären sie sorglos und glücklich und hätten ihren realen Kummer für eine Weile vergessen. Aber Lily wusste, dass dem nicht so war. Diese kleinen Wesen wussten genau, dass sie die Kinder von >Unwürdigen< waren. Sie wussten, dass sie nur am Leben waren, weil ihre fernen Wohltäter ihnen eine Hand ausgestreckt hatten.“ (Seite 134/ 135)
Dieses Buch hat es in sich. Es scheint so, als sei es eine „rührselige“ Geschichte über ein Waisenkind, dass seinen Weg macht. Doch es ist viel mehr. Schon zu Anfang erfährt man nämlich, dass Lily ein schweres Verbrechen begangen hat und nur darauf wartet, dass man sie findet und in den Kerker schmeißt. In Rückblicken erfahre ich dann ihre Lebensgeschichte. Wobei „Lebens“ ein wenig weit gegriffen ist. Denn die Protagonistin ist noch sehr jung.
Die Zeit bei der Pflegefamilie gehört zu den schönen Erinnerungen in Lilys Leben. Dort fühlte sie sich geliebt und angenommen. Die Zeit im Waisenhaus war die schlimmste Zeit in ihrem Leben. Hier waren Prügel und Züchtigungen an der Tagesordnung.
Puh, das war kein leichtes Buch. Als Leserin weiß ich von der ersten Seite an. dass irgendetwas „Schlimmes“ passiert sein muss, passieren wird. Das hatte natürlich den Sog, dass ich unbedingt wissen wollte, was es war und habe das Buch somit förmlich inhaliert. Doch an manchen Stellen musste ich es dann doch aus der Hand legen, weil das was Lily passiert ist, mich einfach eiskalt erwischt hat.
Die Bücher von Rose Tremain konnten mich in der Vergangenheit immer begeistern. „Lily“ ist auch wieder eins dieser Bücher. Scheinbar leise und rührselig kommt Lilys Geschichte daher, doch nach ein paar Seiten bekommt man den ersten Einblick in Lilys „Hölle“ und die steigert sich im Verlauf des Buches. Kann es bei all dem noch ein „schönes“ Ende für Lily geben? Lest selbst.
„Träume, so befand Lily, spielten bei fast allem eine Rolle. Sie konnten die Vergangenheit in die Zukunft verwandeln. Sie konnten dich auf einen Weg schicken, an den du zwar einmal gedacht, den zu gehen du jedoch nie gewagt hattest – bis zu einem bestimmten Moment. Mit der wirren Mathematik des Gehirns können Träume manchmal Gleichungen vor dir ausbreiten, die vollkommen und korrekt sind. Und so geschah es, dass eines Tages – es war ein Sonntagnachmittag, sie war fast sechzehn und döste vor ihrem Kamin – solch ein Traum in Lilys Gehirn gesickert war.
Sie stand beinah sofort auf, ohne im Einzelnen darüber nachzudenken, was sie gleich tun würde, wollte es lieber als etwas betrachten, das gewissermaßen schon geschehen war.“ (Seite 200)