Reichtum der Gedanken

Luchterhand
Fester Einband
280 Seiten
Erscheinungsdatum:
12.03.2018
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 9783630875187

Klappentext
Hamburg, 1964. Antonia und Edgar scheinen wie füreinander gemacht. Sie teilen den Traum von einer Zukunft fern von ihrer Herkunft. Im Krieg geboren und mit Härte und Verdrängung aufgewachsen, wollen sie sich entwickeln, die Welt kennenlernen, anders leben und lieben als ihre Eltern. Edgar ergreift die Chance, für eine Außenhandelsfirma ein Büro in Hongkong aufzubauen. Toni soll folgen, sobald er Fuß gefasst hat. Nach einem Jahr der Vertröstungen löst Toni die Verlobung. Sie will nicht mehr warten und hoffen, sondern endlich weiterleben. Tonis und Edgars Leben entwickelt sich auseinander, doch der Trennungsschmerz zieht sich wie ein roter Faden durch beide Biografien. Toni lebt in dem Konflikt zwischen ihren Idealen von Freiheit und Unabhängigkeit und dem Wunsch, sich zu binden, um Edgar zu vergessen.
Fünfzig Jahre später, nach dem Tod ihrer Mutter, fragt sich Tonis Tochter: War ihre Mutter gescheitert oder lebte sie, wie sie es sich gewünscht hat, selbstbestimmt und frei? Wer war dieser Mann, den sie nie vergessen konnte? Die Tochter will ihm begegnen, ein einziges Mal.

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„Beschränkt auf diese vier Wände zu sein, verfolgt von den Gedanken an das Leben da draußen, ich versuche, es mir vorzustellen. Gedanken an Spaziergänge am Strand, der mit dem Fahrrad in weniger als einer halben Stunde zu erreichen wäre; Gedanken an Autofahrten, um sich ein neues Buch zu kaufen, um ins Theater oder Kino zu gehen; Gedanken an Dinge, die selbstverständlich gewesen, doch zuletzt nicht mehr möglich gewesen waren, an Freundschaften, die deshalb schwerfällig geworden und schließlich verloren gegangen waren. Gedanken an das eigene Kind. Das Warten auf einen Anruf, das Warten auf eine Mail von diesem Kind. Gedanken an die Vergangenheit, an eine Frau Anfang zwanzig, die in einem Zimmer zur Untermiete gewohnt hat, ein neu gekauftes Cocktailset im Regal, einen Plattenspieler neben dem Sofa, einen Stapel Bücher neben dem Bett, die darauf wartet, dass ihr Besuch an der Tür klingelt.“ (Seite 43)

Antonia, Toni genannt, ist tot. Ihre Tochter, die Ich-Erzählerin räumt nach dem Tod der Mutter die Wohnung nach und nach aus. Dabei fallen ihr Fotos und Tagebucheinträge der Mutter in die Hand.

Toni war eine selbstbewusste Frau, die ihren Weg ging. In den 60er lernt sie Edgar kennen, ihre große Liebe. Die beiden sind voller Pläne für die Zukunft. Sie wollen reisen, leben … anders als ihre Eltern, die vom Krieg geprägt sind. Es scheint als könne die beiden nichts aufhalten. Doch dann geht Edgar nach Hongkong. Toni soll bald nachkommen. Doch dies geschieht nie. Toni löst ihre Verlobung und versucht ein Leben ohne Edgar zu leben. Sie heiratet mehrfach und bekommt eine Tochter. Doch ihre große Liebe Edgar kann sie nie vergessen. Sie trifft ihn sogar Jahre später noch einmal, doch dieses Treffen verläuft anders als Toni es sich vorgestellt hat.

Nun sitzt Tonis Tochter im Haus der Mutter und versucht das Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren. Was ist damals passiert? Wieso haben Toni und Edgar nie zueinander gefunden? Was hat diese Liebe auseinandergebracht?

„Die Gegenwart ist das Rohmaterial, aus dem die Zukunft geformt wird.“ (Seite 140)

Kennt ihr dieses Gefühl, wenn einem kalt ist, und man sich eine dicke Decke umlegt? Genau so erging es mir mit diesem Roman. Schon nach wenigen Seiten hatte ich das Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Ich habe mich in diese Geschichte um Toni und Edgar fallen lassen. Bilkaus Sprache ist einfach grandios. Die Ich-Erzählerin erinnert und konstruiert das Leben ihrer Mutter mit so viel Liebe und Wärme, das ich gar nicht mehr daraus auftauchen wollte. Bilkau erzählt von einer großen Liebe, von den Ängsten und dem Verlust einer großen Liebe, von Neuanfängen die immer wieder irgendwie scheitern und der großen Frage … hatte Toni das Leben, das sie sich gewünscht hat?

Aber es ist nicht nur Tonis Leben, das hier reflektiert wird. Es geht auch um das Leben der Ich-Erzählerin, die selbst Mutter ist und der Auszug der Tochter steht kurz bevor, um Beziehungen, und das diese gepflegt werden müssen, egal ob Ehe oder Mutter-Tochter-Beziehung.

Irgendwann kommen wir alle an diesen Punkt, an dem wir uns fragen, haben wir das Leben gelebt, das wir leben wollten/ uns gewünscht haben? Das Leben ist sicherlich kein Wunschkonzert oder Ponyhof, aber wir haben jeden Tag die Chance das Beste aus unserem Leben zu machen und es ist nie zu spät unsere Träume zu leben.

„Eines unserer letzten langen Telefonate. Ich hatte auf dem Sofa gelegen, allein zu Hause, hatte mir Zeit genommen. Am Ende des Gesprächs sagte ich ihr, ich würde anfangen, mich vor dem Alter zu fürchten, vor dem Alleinsein. Ich rückte damit raus, dass es mir schwerfiel zu sehen, wie sie an ihre Wohnung gebunden war, dass es mich bedrückte und mir Angst machte.
„Du musst dir keine Sorgen machen“, hatte sie zu mir gesagt, mit ihrer jungen, zuversichtlichen Stimme. „Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben“.“ (Seite 241)