Die Partitur des Lebens

duotincta Flexibler Einband  250 Seiten Erscheinungsdatum: 13.10.2015  Preis: 14,95 € ISBN: 9783946086048

duotincta
Flexibler Einband
250 Seiten
Erscheinungsdatum: 13.10.2015
Preis: 14,95 €
ISBN: 9783946086048

Rückentext
Was bleibt zu tun, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht? Die Wohnung ist ausgeräumt, alle Vorkehrungen sind bereits getroffen.
Lászlò, der in jungen Jahren aus Ungarn in die Schweiz geflohen ist, sitzt in seiner leeren Wohnung und wartet auf einen jungen Mann. Auf einem Tisch stehen ein paar Flaschen Portwein und Brandy, daneben liegt ein Stapel Manuskripte von Dominik: Das Vermächtnis von Lászlòs altem Freund, das er vor der Vernichtung bewahren möchte und deshalb ausgerechnet einem Unbekannten überlassen muss. Aus der Begegnung wird ein Gespräch, das eine Verbundenheit offenbart, die alles in ein anderes Licht taucht:
Vor dem Antritt seiner letzten Fahrt reist Lászlò in die eigene Vergangenheit und beginnt an die letzten Geheimnisse seines Lebens zu rühren, ein Leben, das sich aus Scheitern, Liebe, Schuld und Ideologie formte.

∗∗∗∗∗

Das Leben verlieren ist keine große Sache;
aber zuzuschauen,
wie der Sinn des Lebens aufgelöst wird,
das ist unerträglich.
Albert Camus ( Seite 9)

Lászlò ist am Ende seines Lebens angekommen. Er weiß, dass er an seiner Erkrankung irgendwann sterben wird. Doch das nimmt er so nicht hin und somit hat er beschlossen, seinem Leben ein Ende setzen wird. Für den nächsten Tag ist alles in einer schweizerischen Sterbeklinik vorbereitet. Doch vorher ordnet er noch die letzten Dinge in seinem Leben. Er räumt seine Wohnung leer und bestellt sich einen jungen Mann in die leere Wohnung. Lediglich ein paar Flaschen Portwein und Brandy stehen auf einem vereinsamten Tisch herum. Lászlò möchte diesem ihm unbekannten Mann das Manuskript seines alten Freundes Dominik geben. Nichts ist ihm wichtig, doch dieses Manuskript darf nicht mit ihm sterben. So wird aus einem einfachen Treffen ein Gespräch über das Leben und den Tod.

„Wer sagt der Nacht, das sie enden muss? Wer zeigt den Straßen, wo sie hinführen sollen? Und wer sagt dem Lebendigen, dass er allmählich zu zerfallen hat? Schwächer werden, gebrechlicher, langsamer. Es passiert, ohne das ich es verstehe. (Seite 11)

Eigentlich denkt man bei diesem Plot, das ist eine Geschichte, die schnell erzählt und gelesen ist. Zumal das Buch „nur“ 145 Seiten hat. Doch ehrlich gesagt haben es diese 145 Seiten in sich. Schon direkt zu Anfang habe ich Probleme der Geschichte zu folgen. Ich habe das Gefühl alle Infos springen hin und her … Zeit, Orte, Menschen … Allein die ersten drei Seiten haben nur ein großes Fragezeichen in meinem Kopf hinterlassen. Also habe ich das Buch zugeklappt, und es ein paar Tage auf Seite gelegt.

„Der menschliche Geist existiert in einer seltsamen Welt. Niemand vermag genau zu sagen, wann er beginnt, wo er entspringt. Die ersten Erinnerungen des Kindes sind lediglich die ersten fassbaren Zeichen. Denkt man darüber nach, ist das Denken immer da gewesen. Ein infiniter Regress, denn bevor ich über das Denken nachdenken kann, muss ich bereits gedacht haben. So dreht sich das Bewusstsein in einer Endlosschleife rückwärts in die vergangene Unendlichkeit . Als wäre jemand vor mir da gewesen, der mein Leben gelebt hat, das ich erst nachträglich verstehen kann.“ (Seite 12)

Nach ein paar Tagen habe ich es dann noch einmal zur Hand genommen, habe mich langsam der Geschichte angenähert und dann passierte es … ich tauchte ein in eine Geschichte voller philosophischen Ansätze. Einer Geschichte, die ein Leben Revue passieren lässt. Ein Leben voller Schuldgefühle, Unzulänglichkeiten, Liebe, Freundschaft und der Liebe zum Leben.

„So real kann die Realität sein, befürchte ich. Zum ersten Mal in meinem langen Leben wird mir die Zeit physisch bewusst. Als wäre ich eine Sanddüne, die jeden Windhauch im eigenen Vergehen spürt.“ (Seite 32)

„Letzte Runde“ ist sicherlich kein einfacher Roman. Einmal, weil es um ein Thema geht, dem die meisten Menschen so lange wie möglich ausweichen … dem Tod. Und wenn es dann noch um den eigenen Tod geht, dann blockiert man ganz. Dann ist da noch die Sprache. Manche Stellen musste ich mehrfach lesen, um zu begreifen, was sie zu bedeuten haben, was sie mir sagen wollen. Doch bei all den kleinen Schwierigkeiten haben mich  gerade die poetische Sprache, so wie die philosophischen Ansätze begeistert.

Ich habe mich oft gefragt woher eine so junge Autorin (Stefanie Schleemilch wurde 1986 geboren) diese tiefgründigen Ansätze hernimmt.

Letztendlich denke ich, wenn man ein erfülltes Leben hatte, mit  seinen Höhen und Tiefen, dann kann von dieser großen Bühne gehen … ohne Traurigkeit und Wehmut!

„Ich bin kein Mensch mit Gerechtigkeitssinn, kein Mensch des großen Ganzen, kein Philosoph. Ich versuche nicht, meinen Tod durch Gründe zu rechtfertigen; es geht beim Sterben schlicht und pragmatisch darum, den begrenzten, engen Raum auf dieser Welt für Neues frei zu geben. Es geht nicht darum, dass ich meinen Zweck erfüllt habe, es geht darum, dass ich überflüssig geworden bin.“ (Seite 102)

4 von 5 Sternen

Chaos trifft auf Struktur und Ordnung

Goldmann Verlag (HC)  Fester Einband  288 Seiten Erscheinungsdatum: 21.09.2015  Preis: 19,99 € ISBN: 9783442313211

Goldmann Verlag (HC)
Fester Einband
288 Seiten
Erscheinungsdatum:
21.09.2015
Preis: 19,99 €
ISBN: 9783442313211

Klappentext
Korbinian Gerhard ist Lehrer und seit dem Tod seiner Frau allein lebend. Er ist kauzig, pedantisch und legt Wert darauf, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Billa ist siebzehn, freiheitsliebend und rebellisch – und ohne Dach über dem Kopf, denn sie ist von zu Hause abgehauen. Als Korbinian sie an einem kalten Winterabend hungrig und krank auffindet, nimmt er sie widerwillig mit zu sich nach Hause.
Dass seine sorgsam gehütete Ordnung damit bedrohlich ins Wanken gerät, bekommt er bald zu spüren: Billa fegt – nebst ihrer Entourage – wie ein Gewitter durch sein Leben und scheut sich nicht, alle vermeintlichen Gewissheiten auf den Kopf zu stellen. Und Korbinian staunt nicht wenig, als er sich plötzlich wiederfindet in dem großen Abenteuer, das man Freundschaft nennt …

∗∗∗∗∗

Er fühlt sich nur dann wohl, wenn alles um ihn herum verlässlich strukturiert war, wenn die Welt ihre Ordnung hatte, und sei es nur in Form perfekt positionierter Filzpantoffel in der Morgenfrühe.“ (Seite 17)

„Nachdem seine Frau so völlig unerwartet gestorben war, hatte er sich das Alleinsein wie einen Mantel umgelegt (…)“ (Seite 18)

Korbinian lebt seit dem frühen Tod seiner Frau allein. Er hat sich nie die Zeit genommen wirklich um sie zu trauern. Im Gegenteil … er ist nach der Beerdigung direkt zur Tagesordnung übergegangen. Sein Tagesablauf ist strukturiert und durchgeplant. Kleineste Abweichungen bringen ihn aus dem Trott bzw. werden erst gar nicht zugelassen. So wird er unweigerlich zu einem Menschen, der mit der Gesellschaft anderer Menschen nichts mehr anzufangen weiß. Er mag es allein zu sein … mit sich und seinen Gedanken. Andere Menschen zerstören nur seine Struktur.

„Alleinsein und Ordnung, das waren die beiden Pfeiler, auf denen Korbinians Existenz als Witwer bis zu diesem vierzehnten November aufgestellt war, Alleinsein und Ordnung hielten ihn beieinander, und genauso wäre es bis an sein Lebensende geblieben, wenn er selbst zu bestimmen gehabt hätte.“ (Seite 18/19)

Doch eines Tages stürzt Billa in sein Leben, und die bringt es mehr als nur durcheinander. Sie bringt das pure Chaos. Billa lebt auf der Straße, sie ist auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Vater. In einer kalten Nacht gewährt Korbinian der kranken Billa Unterschlupf in der Nähe seiner Wohnung. Doch im Laufe der Nacht geht es Billa immer schlechter und Korbinian ruft in seiner Hilflosigkeit seiner Schwester an. Emilia und Korbinian haben sich auch schon Jahre nicht mehr gesehen, obwohl sie nur ein paar Straßen auseinander wohnen.  Doch Emilia kommt sofort und bringt einen Arzt mit. Dieser stellt eine schwere Grippe bei Billa fest und verordnet Bettruhe. Nun muss Korbinian sein Gästezimmer für Billa opfern und sein Schlafzimmer für Emilia, die auch über Nacht bleiben will. Das Chaos nimmt seinen Lauf und Korbinians gewohntes Leben droht aus den Fugen zu geraten …

„Hier war etwas im Gang, das ihm die Kontrolle über sein eigenes Leben zu entreißen drohte. Dagegen musste dringend etwas unternommen werden, bevor vollständig entmachtet war. Korbinian hatte jedoch nicht die geringste Idee, was das sein könnte. (Seite 78)

Ich habe schon einige Bücher von Veronika Peters gelesen. Bücher die manchmal voller Leichtigkeit daher kamen oder eine Sehnsucht auslösten. Doch dieses Buch ist anders. Ich kann es eigentlich nicht wirklich beschreiben. Es ist ein stilles und manchmal auch nachdenkliches Buch. Die Geschichte von Korbinian und seinem Verlust macht mich traurig. Er lässt seine Trauer um seine Frau nicht zu und flüchtet sich in Ordnung und Struktur. Alles muss nach einem bestimmten Schema ablaufen. Tagein und Tagaus. Gefühle haben keinen Raum, keinen Platz. Selbst die Beziehung zu seiner Schwester kappte er, aus Angst vor Gefühlen. Denn Gefühle jeglicher Art könnten dazu führen, dass er sich der Trauer und dem Verlust seiner Frau stellen muss.

„Für einen Bruchteil einer Sekunde dachte Korbinian daran, Emilia spontan in den Arme zu nehmen. Weil das aber genau die Art von Gefühlsregung freisetzen konnte, die ihn womöglich die Fassung kostete, ließ er es bleiben und ging in den Flur, um Schuhe und Mantel anzuziehen.“ (Seite 172)

Billa ist eine Jugendliche, die kein schönes Elternhaus hat. Sie lebt auf der Straße, weil der Vater trinkt und sie prügelt. Eine Jugendliche, die sich nach Liebe und Geborgenheit eines Elternhauses sehnt. Nun treffen diese beiden Charaktere aufeinander. Die eine sucht die Liebe/ Nähe/ Geborgenheit, der andere möchte nichts damit zu tun haben. Und dennoch nähern sich beide immer mehr an.

Sie sah ihn mit großen Augen an, voller Unschuld, Zuneigung und Vertrauen. Schockiert stellte Korbinian fest, dass er anscheinend irgendwann damit begonnen hatte, dieses kleine durchtrieben Biest gern zu haben.“ (Seite 192)

Mir gefällt dieser wunderschöne ruhige und leise Roman sehr gut. Ich denke jeder Mensch verarbeitet seine Trauer anders. Korbinian war nicht in der Lage seine zuzulassen um sie dann verarbeiten zu können. Es bedurfte erst einer Billa, die wie ein Wirbelwind in sein Leben rauscht und es auf den Kopf stellt. Durch sie lernt er wieder mit Menschen und Gefühlen zu leben. Aber auch Billa lernt, nämlich dass es sich lohnt den Menschen zu vertrauen.

Ein wundervolles Buch über die Trauer, den Verlust und einem Neubeginn!

Danke liebe Veronika!

5 von 5 Sternen

Was bleibt?!

duotincta Flexibler Einband 320 Seiten Erscheinungsdatum: 22.09.2015 Preis: 16,95 €  ISBN: 9783946086024

duotincta
Flexibler Einband
320 Seiten
Erscheinungsdatum:
22.09.2015
Preis: 16,95 €
ISBN: 9783946086024

Rückentext
Weihnachten in den Tropen – eigentlich ein Traum! Doch statt eines entspannten Urlaubs mit Freundin Nina erlebt Bastian in Thailand sein ganz persönliches Fegefeuer: Rastlos sitz er auf glühenden Kohlen im Paradies, geplagt von Erinnerungen an seine Kindheit in einer zerbrechenden Familie. Als er auf eine rätselhafte Botschaft in einem Bücherregal stößt, nimmt die Reise eine unerwartete Wendung: Was als Geocaching-Abenteuer durch Thailand beginnt, endet für Bastian in einer selbstzerstörerischen Konfrontation mit seiner eigenen Schuld

∗∗∗∗∗

„Es ist so typisch: Nina tritt immer dann auf die Bremse, wenn er Gas geben will, zieht immer dann die Reißleine, wenn er lieber fallen will.“ (Seite 13)

„Weißt du, Nina und ich, wir sind wie … keine Ahnung, sagen wir: Kontinent und Ozean. Sie ist stur wie ein Fels, wirklich. Um sie zu erschüttern, brauchst du schon ein Erdbeben. Tja, und mich bringt bereits ein leichter Sturm aus der Fassung.“ (Seite 27)

Bastian reist mit seiner Freundin Nina nach Thailand. Eigentlich sollte es ein entspannter Urlaub zu zweit werden. Doch die Reise ist in Wahrheit eine Flucht, denn Tage zuvor hat Bastian seinen Vater beerdigt und den Haushalt aufgelöst. Dabei findet er ein Brieftagebuch seiner Eltern und das erste Mal in seinem Leben muss er sich den Dingen stellen, vor denen er sich sein Leben lang verschlossen hat. Der Trip nach Thailand wird zum Desaster …

„Ich möchte mich nicht länger hinter einer Mauer verschanzen. Darum schreibe ich Dir diese Nachricht; um Dir Einblick zu gewähren, was in mir vorgeht. Dabei weiß ich eigentlich selbst nicht, was in den letzten Monaten mit mir los ist. Manchmal gibt es einfach Tage, an denen ich mich fühle wie im freien Fall. Dann sind alle meine Gedanken plötzlich so tonnenschwer, da? Sie mich in die Tiefe reißen. An diesen Tagen ist es, als hätte sich die Gravitation verdoppelt – als presste sie mich zu Boden und wollte mich unbedingt unten halten. Ich würde dann am liebsten liegenbleiben und mich einfach der Schwerkraft ergeben. Alles ist anstrengend, selbst die leichtesten Dinge wirken unerträglich schwer: Aufstehen, Sprechen, Lachen.“ (Seite 50)

Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht wo ich anfangen soll. Dieser Roman ist der Wahnsinn!!! Er geht mir unter die Haut, berührt mein Herz und meine Seele. Vor allem die Briefe zwischen Bastians Eltern lassen keinen Leser kalt. Was ich hier lese, treibt mir die Tränen in die Augen. Sie sind voller Liebe und Zärtlichkeit, aber auch voller Abgründe, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Ich habe noch nie etwas Derartiges gelesen. Frank O. Rudkoffsky schafft es in diesen Briefen, eine Krankheit und deren Ausmaß darzustellen, das man förmlich spüren kann, was Depressionen mit einem Menschen machen können. Wie sehr man leidet … auch das Umfeld bleibt davon nicht verschont. Eine Krankheit deren Ausmaß man sich nicht vorstellen kann.

„Du schreibst vom Abgrund, den Du manchmal hinter den kleinen Rissen vermutest. Ich verspreche Dir: Wir rücken so eng zusammen, daß sich die Risse wieder schießen.“ (Seite 52)

Aber nicht nur das hat mich bewegt. Sondern auch die in meinen Augen schon fast philosophischen Ansätze darüber, was von uns bleibt. Darüber welche Spuren wir hinterlassen … wie können sie aussehen … was bewirken sie … Was bleibt von uns, wenn wir diese Welt verlassen?

„Dein Idealismus in allen Ehren, sagt Bastian, aber so einfach ist es im richtigen Leben nicht. Du sagst, was zählt, sind die Erinnerungen, die man an einen Menschen hat, nicht das was er zurücklässt. Was aber, wenn die Erinnerungen verblassen? Meine Mutter ist zum Beispiel schon vor vielen Jahren gestorben. Ohne Foto wüsste ich kaum noch wie sie aussah. Aber ihr Geruch, der Klang ihrer Stimme – das ist alles wie ausgelöscht. Spätestens wenn ich selber tot bin, erinnert sich niemand mehr an sie. Dann ist es, als hätte es sie nie gegeben. (…) Ob du’s glaubst oder nicht, erwidert Jenny leise, genau darüber habe ich in letzter Zeit auch sehr viel nachgedacht. Letzten Endes bleiben uns doch nur die Tage in Erinnerung, die etwas Besonders waren. Die wenigen Augenblicke, in denen wir ganz bewusst leben, die sind es, die bleiben.“ (Seite 83/84)

Lieber Frank,
ich danke Dir für dieses Wahnsinnsbuch. Für die Einblicke in die Briefe von Anke und Gert, die Reise mit Bastian und Nina durch Thailand. Sie bleiben … bei mir … in meinem Herzen … auf ewig …

Danke ♥♥♥

Und an all die anderen da draußen …. Dieses Buch muss man lesen … unbedingt!!!!

5 von 5 Sternen

Eine Hommage an das Leben

Hoffmann und Campe Fester Einband 256 Seiten Erscheinungsdatum: 23.09.2015 Preis: 22,00 € ISBN: 9783455405576

Hoffmann und Campe
Fester Einband
256 Seiten
Erscheinungsdatum:
23.09.2015
Preis: 22,00 €
ISBN: 9783455405576

Rückentext
Sommer 1945. Der junge Ungar Miklós hat das Konzentrationslager überlebt und es nach Schweden geschafft, wo die Ärzte ihm nur sechs Monate zu leben geben. Doch Miklós hat andere Pläne: 117 Briefe schreibt er an junge Frauen aus seiner Heimatstadt. Eine dieser Frauen wird er heiraten, das hat er sich fest vorgenommen. Lili liest seinen Brief und beschließt, ihm zu antworten. Sie ist die Richtige, das weiß er. Jetzt müssen sie nur noch einen Weg finden, wie sie heiraten können – und Miklós darf nicht sterben.

∗∗∗∗∗

Kleines Kerlchen, noch weißt du nicht, was die Stirn
unseres Erdteils hat so tief zerfurcht,
für dich hier im Norden war’s nur ein Gestirn
das Flugzeug am Himmel, für uns war’s Furcht.

Miklós Gárdos
An einen schwedischen Jungen

Miklós hat das KZ überlebt und wurde wie viele hundert andere Ungaren nach Schweden gebracht. Dort sollen sie in einem sogenannten Erholungslager wieder zu Kräften kommen. Doch Miklós ist krank, so krank, dass er nur noch sechs Monate zu leben hat. Doch das erschüttert Miklós in keinster Weise. Er beschließt die eine Frau fürs Leben zu finden und zu heiraten. Also besorgt er sich eine Liste von 117 Frauen aus seiner Heimatstadt und deren Adresse. Jeder einzelnen schriebt er einen Brief, und hofft auf Antwort.

„>Was ist Ihr Beruf, Miklós?<
>Ich war Journalist. Und Dichter.<
>Ach ein Seeleningenieur. Wie schön.<“ (Seite 13)

Auch Lili hat den Krieg und das KZ überlebt. Sie ist ebenfalls in einem Erholungslager in Schweden untergebracht. In einer Zeit, in der es ihr noch sehr schlecht geht, bekommt sie Miklós Brief und als ihr Freundinnen nicht locker lassen, antwortet sie ihm.

Die Beiden schreiben sich ohne Unterlass Briefe. Mit jedem Brief mehr, lernen sie sich kennen und langsam keimen erste zarte Gefühle auf. Miklós versucht sogar Lili zu besuchen, doch sowohl die Ärzte wie auch die Leiter der Erholungsanstalten sprechen sich dagegen aus. Schließlich gelingt den Beiden doch ein Treffen und sie beschließen sich nie mehr zu trennen. Miklós bereitet alles für eine Hochzeit vor. Doch sie haben nicht mit den Intrigen und dem Neid der anderen gerechnet. Wird ihre Liebe eine Zukunft haben?

„Auf eine gefrorene Pfütze trat ich,
es knackte das dünngraue Eis,
kommst du meinem Herzen nah: Vorsicht! Du weißt,
kaum berührst du es, schon zerreißt
der schützende Mantel aus Raureif,
der es umgab, kühl, grau und steif.
(…)
Komm nun zu mir, leicht wie eine Feder,
lächelnd und beherzt,
such die Stelle, wo der Schmerz
schon gefroren ist, zu Eis hart wie Erz,
streich darüber mit warmer Hand,
und mein Herz wird wieder sehen Land.“ (Seite 65)

Was für eine bewegende Geschichte. Da sind Miklós und Lili, stellvertretend für Millionen anderer Juden und Verfolgte, die den Holocaust überlebt haben. Doch wer denkt, dass nach Kriegsende alles besser oder gar gut ist, irrt hier gewaltig. Die schlimmen körperlichen Wunden heilen, doch die seelischen Wunden bleiben. Und weder Miklós noch Lili reden darüber. Einzig einmal spricht Lili darüber, dass sie eine falsche Identität angenommen hat und konvertieren möchte, da sie keine Jüdin mehr sein will, da sie Angst vor einem solchen Leben hat.

Als Leserin bin ich hin und her gerissen … eben noch liest man die Briefe zweier Liebenden und schon im nächsten Abschnitt werden die Gräueltaten des Holocaust beschrieben. Oft bin ich aber auch verwundert über Miklós und bewundere ihn auch ein wenig … er, der so misshandelt, verwundet wurde und jetzt sterbenskrank ist, hat einen unbändigen Lebenswillen, den ich als Leserin in jeder Zeile spüren kann. Immerzu muss ich denken … Miklós muss es schaffen, er darf nicht sterben … er und Lili müssen heiraten … beide müssen nach diesem Horror eine gemeinsame Zukunft haben. Doch ihnen werden immer wieder neue Stolpersteine in den Weg gelegt und als Leserin könnte man verzweifeln, da Miklós Zeit immer weniger wird.

Ove non sei la luce manca,
Ove tu sei nasce l’amor!

Wo du nicht bist, gibt es kein Licht,
Die Liebe wird geboren, wo du bist! (Seite 127)

Ein wundervoller Roman in einer ebenso wundervollen Sprache, über ein Thema das weniger schön ist. Doch Péter Gárdos hat die Geschichte seiner Eltern mit Hilfe deren Briefe wundervoll erzählt. Eine Geschichte wundervoll, einfühlsam und erschütternd erzählt … über das Leben nach dem Holocaust, eine Geschichte voller Mut und Zuversicht und dem Gedanken, dass es sich immer lohnt zu kämpfen … für das Leben und die Liebe …

5 von 5 Sterne

Ist das Liebe oder Ignoranz?

Kiepenheuer & Witsch Fester Einband  160 Seiten Erscheinungsdatum: 17.08.2015 Preis: 16,00 € ISBN: 9783462048025

Kiepenheuer & Witsch
Fester Einband
160 Seiten
Erscheinungsdatum: 17.08.2015
Preis: 16,00 €
ISBN: 9783462048025

Klappentext
Baba Dunja ist eine Tschernobyl-Heimkehrerin. Wo der Rest der Welt nach dem Reaktorunglück die tickenden Geigerzähler und die strahlenden Waldfrüchte fürchtet, baut sich die ehemalige Krankenschwester mit Gleichgesinnten ein neues Leben auf. Wasser gibt es aus dem Brunnen, Elektrizität an guten Tagen und Gemüse aus dem eigenen Garten. Die Vögel rufen im Niemandsland so laut wie nirgends sonst, die Spinnen weben verrückte Netze, und manchmal kommt sogar ein Toter auf einen Plausch vorbei. Während der sterbenskranke Petrov in der Hängematte Liebesgedichte liest, die Gavrilovs im Garten Schach spielen und die Melkerin Marja mit dem fast hundertjährigen Sidorow anbandelt, schreibt Baba Dunja Briefe an ihre Tochter Irina, die Chirurgin bei der deutschen Bundeswehr ist. Und an ihre Enkelin Laura. Doch dann kommen Fremde ins Dorf – und die Gemeinschaft steht erneut vor der Auflösung.

∗∗∗∗∗

„Im Grunde hatte ich nichts zu verlieren. Und ich war bereit zu sterben. Meine Arbeit hatte mich gelehrt, diese Möglichkeit immer im Auge zu behalten, um nicht eines Tages überrumpelt zu werden.“ (Seite 12)

Irgendwann, Jahre nach dem Reaktorunglück, kehrt Bab Dunja in ihr Heimatdorf Tschernowo zurück, welches in der sogenannten Todeszone liegt. Dort lebt sie mit einigen anderen skurrilen Menschen mehr oder weniger zusammen. Denn alle sind schon älter bzw. alt und erwarten scheinbar nichts mehr vom Leben. Ihre „beste“ Freundin ist die Melkerin Marja. Da es weder Autos noch eine regelmäßige Busverbindung gibt, muss Baba Dunja die Strecke ins nächstgelegene Dorf zu Fuß zurück legen. Dort kauft sie die Dinge ein, die sie in Tschernowo nicht bekommt, so wie die Post für alle.

„Das Gute am Altsein ist, dass man niemanden mehr um Erlaubnis zu fragen braucht – nicht, ob man in seinem alten Haus wohnen kann, (…)“ (Seite 14)

Eines Tages taucht ein Mann mit seiner Tochter in dem verseuchten Dorf auf. Baba Dunja und die anderen sind in heller Aufruhr, denn sie haben große Angst, dass das Kind verstrahlt werden könnte. Schließlich passiert ein Unglück.

„Wir in Tschernowo wissen alle, dass der Bus nicht mehr lange fahren wird. Was wir dann tun, wissen wir nicht. Vielleicht hat sich bis dahin jemand gefunden, der uns aus Malyschi Dinge bringt, die wir nicht selbst anbauen können. Petrow hat schon versucht, jemanden aufzutreiben, aber niemand war bereit. Wir sind den Menschen unheimlich. Sie scheinen zu glauben, dass die Todeszone sich an die Grenzen hält, die Menschen auf Landkarten einzeichnen.“ (Seite 45)

Ich weiß, dass ich jetzt mit dieser Rezension in ein Fettnäpfchen treten werde. Warum … nun das Buch hat überwiegend sehr positive Bewertungen und stand sogar auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Aber das ist in meinen Augen keine Garantie noch Aussage darüber, ob ein Buch gut oder schlecht ist. Und an dieser Stelle sei auch schon einmal gesagt … es möchte sich bitte jeder ein eigenes Urteil über dieses Buch bilden, denn die hier abgedruckte Meinung ist meine.

Das Buch fängt sehr lustig an und ich dachte so. gefällt mir. Doch mit jeder Seite mehr, und es gibt nicht viele in diesem Buch, verging mir das Lachen und ich fragte mich was will die Autorin mit dieser Geschichte aussagen?

Dass es Menschen gibt, die ihre Heimat so sehr lieben, dass man selbst dann dorthin zurückkehrt, obwohl das eigene Leben dann in Gefahr ist? Dass man in einer Todeszone machen und tun kann was man will, da es eh keinen interessiert und man keine Strafe zu fürchten hat?

Der Klappentext hatte mich so neugierig gemacht. Ich habe eine Geschichte erwartet, die mehr in die Tiefe geht. Eine Geschichte, die aufzeigt wie es den Menschen erging, als die Teaktorkatstrophe geschah, was empfunden haben und was sie bewegt wieder in ihre verseuchte Heimat zurück zu kehren. Was habe ich bekommen? Eine Geschichte über eine Frau, die in meinen Augen, die schlimme Lage zu leicht nimmt. Vielleicht ist das so von der Autorin gewollt, frei nach dem Motto … ist ja alles gar nicht so schlimm. Ist es das wirklich nicht? Ich frage mich, wie dies die Menschen sehen, denen dieses Unglück wirklich geschehen ist …

„Im ersten Jahr in Tschernowo wurden mir viele Fragen gestellt. Die schwierigsten kamen von Irina. Die sinnlosesten von Reportern. Sie folgten mir auf Schritt und Tritt, wie Astronauten verpackt in ihre Strahlenschutzanzüge. Bab Dunja, riefen sie durcheinander, welches Zeichen wollen Sie damit setzen? Wie wollen Sie dort überleben, wo kein Leben mehr sein kann? Würden Sie es zulassen, dass Ihre Familie Sie besucht? Wie sind Ihre Blutwerte? Haben Sie Ihre Schilddrüse checken lassen? Wen lassen Sie in Ihr Dorf einziehen?
Ich weiß nicht, ob sie jemals verstanden haben, dass es nicht mein Dorf ist. Ich habe versucht, mit ihnen zu reden, habe ihnen mein Haus und den Garten gezeigt, die anderen Häuser, die damals leer standen. Auch das war ein Fehler, ich hätte mich von den Kameras abwenden und ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen sollen“ (Seite 101/ 102)

… und ich hätte diese Buch besser zugelassen. Aber macht Euch bitte Euer eigenes Bild!!!

2 von 5 Sternen

 

Ada und Bo, oder ziehen sich Gegensätze wirklich an?

DuMont Buchverlag Flexibler Einband 192 Seiten Erscheinungsdatum: 17.02.2011 Preis: 6,99 € ISBN: 9783832161859

DuMont Buchverlag
Flexibler Einband
192 Seiten
Erscheinungsdatum:
17.02.2011
Preis: 6,99 €
ISBN: 9783832161859

Klappentext
Als ihre Tante Rosi stirbt, gerät Adas Welt aus den Fugen. Aber nicht so sehr wegen der Trauer um die schrullige Tante. Vielmehr weckt einer der Sargträger Adas Interesse, als er aus Versehen sein Gebetbuch ins Grab fallen lässt. Bo ist Landwirt und nur im Nebenberuf Sargträger. Er ist ganz anders als die verschlossene Ada.
Ada sucht ihr Glück in Büchern und verkriecht sich vor dem Leben. Bis Bo mit seinen Kühen und Schweinen in ihr Leben tritt. Er liest Ada aus den Landwirtschaftszeitungen vor und stellt ihr schließlich eigene Gummistiefel hin. Doch Ada traut den Schweinen nach wie vor nicht über den Weg, und sie glaubt nicht recht am die Beziehung …

∗∗∗∗∗

Vielleicht bekommst du eine Chance, dein Bedürfnis nach Liebe und Leben anderswo zu stillen … Mut, das Leben ist überall … Warte … Gib nicht auf … Warte! Es dauert nicht mehr lange, und das Leben wird neu erwachen …
(Madeleine Bourdouxhe)

Ada ist anders als andere Mädchen. Sie lebt in ihrer eigenen Welt … der der Bücher. Sie meidet jegliche Kontakt … in der Schule, an der Uni, im Leben. Ihr sind die losen Kontakte und unverbindlichen Dates am liebsten. Um ja nicht am Leben teilnehmen zu müssen legt sie sich Karteikarten an, um Ausreden am Telefon parat zu haben.

Eines Tages lernt sie Bo kennen. Er ist einer der Sargträger von Adas Tante. Als sein Gebetbuch in das Grab fällt, richtet er damit ungewollt Adas Aufmerksamkeit auf sich. Fortan ist Ada jeden Sonntag auf dem Friedhof, um Bo zu treffen. Aus der Freundschaft scheint sich so etwas wie eine Liebe zu entwickeln.

„Fühlst du es, fragte meine Mutter, der es wichtig war. Was, fragte ich und sie sagte die Liebe. Ich fühlte in mich hinein und sah mein Blut rauschen und mein Herz schlagen, aber Bo sah ich nicht.“ (Seite 40)

Adas Eltern haben jedoch so ihre Zweifel, ob Bo der Bauer, der richtige Mann für Ada ist. Doch Ada hat sich entschieden und will es mit Bo versuchen … wäre da nicht ihre Angst vor seinen Schweinen und dieser fürchterliche Geruch …

„Die Buchstaben, die mir in meiner Kinderzeit so viel Ärger eingebracht hatten, waren in der Bibliothek an ihrem Platz. Sie hatten ihren eigenen Geruch nach altem, abgegriffenem Papier, nach Druckerschwärze und verbrauchter Luft. Sie atmeten de Geräusche ihrer Leser ein, das heisere Räuspern, das Kratzen der Bleistifte auf chlorfreiem Papier und das Rascheln der Seiten beim hastigen Umblättern durch trockene Hände.“ (Seite 44/ 45)

Diese Geschichte um Ada ist so schwierig und ungewöhnlich wie Ada selbst. Ehrlich gesagt, kann ich gar nicht so genau sagen, ob ich dieses Buch mag. Der Schreibstil ist etwas gewöhnungsbedürftigt. Nicht nur, dass die Autorin die indirekte Rede gebraucht, nein, sie springt auch in ihren Sätzen, so dass ich oft nicht so genau wusste, worum es gerade geht. Doch je mehr ich las, desto mehr gewöhnte ich mich an Stil und Sprache.

„In diesem Augenblick wurde mir klar, wie klug Bo war, und dass seine Klugheit eine andere war als meine. Bo hatte sein Wissen aus dem Leben und irgendwie auch aus dem Herzen. Ich hatte meines aus Büchern und es konnte doch nicht gut gehen mit uns, und während mir sein Geruch in die Nase stieg, flüsterte ich Bo ins Ohr, du bist so dumm, Bo, und er lachte und flüsterte zurück, und du erst., Ada.“ (Seite 147)

Die Story selbst ist auch etwas ungewöhnlich. Da ist einmal Ada, das Mädchen, die eher eine Eigenbrötlerin ist und lieber für sich bleibt. In meinen Augen hat Ada leichte Autistische Züge. Sie verliebt sich in Bo, einem Landwirt. Auf den ersten Blick erscheint mir als Leserin diese Konstellation als unmöglich. Doch jeder der beiden Protagonisten entwickelt sich in der Geschichte.

Die Autorin hat mit diesem Roman versucht zu zeigen, wie schwer es ist sich einem Menschen zu öffnen. Sein Innerstes nach außen zu kehren, Nähe zuzulassen und sich seinen Gefühlen zu stellen. An manchen Stellen gelingt es, an anderen hätte ich mir mehr davon gewünscht.

Alles in allem eine nette Geschichte, von der ich mir irgendwie mehr erhofft hatte.

„Leben ist mehr als Zusehen und Aufschreiben, hat Bo in einer Nacht zu mir gesagt. Leben geht über Wörter hinaus, die du studierst, Leben beginnt dort, wo die Sprache aufhört, es ist Atem und du kannst seinen Pulsschlag hören, wenn du nur willst.“ (Seite 189)

 

3 von 5 Sternen

Eine Hommage an das Älter werden und das Alter

Insel Verlag Fester Einband  192 Seiten Erscheinungsdatum: 08.08.2015  Preis: 19,95 € ISBN: 9783458176527

Insel Verlag
Fester Einband
192 Seiten
Erscheinungsdatum:
08.08.2015
Preis: 19,95 €
ISBN: 9783458176527

Klappentext
Dies ist die Geschichte von drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Von drei Männern, die die Freiheit lieben. Eines Tages aber ist es mit ihrer Einsiedelei vorbei. Zuerst stößt eine Fotografin zu ihnen, sie sucht nach einem der letzten Überlebenden der Großen Brände, einem gewissen Boychuck. Kurze Zeit später taucht Marie-Desneige auf, eine eigensinnige, zierliche Dame von zweiundachtzig Jahren. Die Frauen bleiben. Und während sie dem Rätsel um Boychucks Überleben nachgehen, kommen sich diese Menschen näher, und plötzlich ist alles wunderbar kompliziert.

∗∗∗∗∗

„Ted war ein gebrochener Mann, Charlie ein Naturbursche und Tom ein Draufgänger. Die Tage vergingen, und sie wurden gemeinsam alt. Sehr alt. Sie hatten alles hinter sich gelassen. Keiner von ihnen wollte zurück in sein früheres Leben, sie wollten einfach morgens aufstehen, den neuen Tag begrüßen, der nur ihnen selbst gehörte, und sich von niemandem in irgendwas rein reden lassen.“ (Seite 40)

Ted, Charlie und Tom leben in den nordkanadischen Wäldern. Zusammen sind sie fast zweihundert Jahre alt. Sie sind der festen Überzeugung, dass sie noch viele Jahre vor sich haben. Doch eines Morgens ist Ted tot. Und ohne, dass es die beiden anderen ahnen ist mit seinem Tod auch die Einsiedelei vorbei. Denn ein paar Tage nach Teds (auch Ed oder Boychuck genannt) taucht eine Fotografin auf, um über die Großen Brände und Boychuck zu recherchieren, der als einer der wenigen diese Brände überlebt hat. Aber die Fotografin stößt nur auf Charlie und Tom. Von Charlie ist sofort fasziniert.

„Ich war beeindruckt von dieser dicken, knotigen Hand mit den steifen Gelenken, die im Fell des Hundes so geschmeidig war, und noch mehr von Charlies Stimme, die, wenn sie dem Hund galt, leiser wurde, samtweich und zärtlich“ (Seite 18)

Doch damit nicht genug, stößt ein paar Tage später eine alte Dame zu den beiden Alten. Sie wird von Bruno, einem jungen Mann, der ab und an nach den Alten schaut und sie mit Lebensmittel versorgt, ins Lager gebracht. Marie-Desneige, so heißt die alte Dame ist zweiundachtzig Jahre alt und hat davon sechsundsechzig Jahre in einer Psychiatrie verbracht. Nun ist sie mehr oder weniger getürmt. Die Männer errichten ihr eine Hütte und fortan lebt Marie-Desneige bei Tom und Charlie. Die Fotografin schaut immer mal wieder vorbei und bleibt dann für einige Zeit dort. Doch das Leben der beiden Männer wird durch die Anwesenheit von Marie-Desneige durcheinander gebracht. Sie und Charlie nähern sich immer mehr an …

„Ich liebe Geschichten, ich liebe es, wenn man mir ein Leben von Anfang an erzählt, mit allen Umwegen und Schicksalsschlägen, die dazu geführt haben, dass ein Mensch sechzig oder achtzig Jahre später vor mir steht, mit einem ganz bestimmten Blick, ganz bestimmten Händen und einer ganz bestimmten Art zu sagen, dass das Leben gut oder schlecht gewesen ist.“ (Seite 19/ 20)

Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll, denn dieses Buch hat mich einfach umgehauen.

Ich liebe dieses Cover ♥ Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich nur, was für ein charismatischer Mann. Allein das war schon ein Argument, sich den Klappentext näher anzuschauen. Als ich dann angefangen habe dieses Buch zu lesen, bekam dieses Gesicht immer mehr einen Namen und am Ende des Buches habe ich nur gedacht … ja, das muss Charlie sein. Genau so und nicht anders stelle ich mir diesen Mann vor. Ein vom Leben gezeichneter Mann, der dennoch eine Wärme und Zärtlichkeit in sich hat, die man in seinem Gesicht ablesen kann.

„Bei alten Menschen sind die Augen das Wichtigste. Ihre Gesichter sind eingefallen, die Haut ist schlaff und faltig, vor allem rings um den Mund, die Augen, die Nase und die Ohren. Ihre verhärmten Gesichter sind schwer zu entziffern. Von alten Menschen erfährt man nur etwas, wenn man ihnen in die Augen sieht. Die Augen enthalten ihre Lebensgeschichte.“ (Seite 82)

Dann fiel mir die Aufmachung des Buches auf. Zu Anfang eines jeden Kapitels, steht eine „Einleitung“. Sie erzählt, was mich als Leserin erwartet, beschreibt Landschaften, Gefühle oder Situationen, Dinge die sich ereignen werden oder auch nicht. Ich war dann immer ganz gespannt, was dann tatsächlich passierte. Man muss sich das ähnlich wie bei einem Theaterstück vorstellen, bei dem man vor Beginn ein Heftchen bekommt, in dem die einzelnen Akte beschrieben sind. Unter diesen Text findet ihr einen kleinen Auszug aus einem Kapitel …

„Jeden Morgen führen sie dasselbe Gespräch, mit leichten Variationen, ein Gespräch, das sie nicht weiterbringt. Die beiden erleben ihre letzten Momente der Zweisamkeit. Bald werden zwei Neue zu der Gemeinschaft am See dazustoßen, eine kleine alte Dame mit großen schwarzen Augen und eine große, kräftige Frau, die die Legenden von Boychuck zum Vorwand nimmt, um ihnen einen Besuch abzustatten. (…) Und was ist mit der Liebe? Nun, die Liebe muss noch etwas warten, ihre Zeit ist noch nicht gekommen.“ (Seite 68)

Was mich jedoch am allermeisten berührt hat, war die Geschichte um diese alten Menschen. Die Autorin Jocelyne Saucier hat es geschafft eine wundervolle Hommage an das Alter und das Älter werden geschrieben. Mit ihrem eigenwilligen Stil (viele verschachtelte Sätze, was ich jedoch sehr mag) und ihrer poetischen Sprache schafft sie es die Gefühle und Gedanken dieser Menschen zu transportieren.

Wir leben in einer Zeit, in der es immer mehr ältere Menschen gibt. Jocelyne Saucier zeigt mit dieser wundervollen Geschichte, dass es keine Altersgrenze für die Liebe, den ersten Kuss, den Freiheitsdrang, die Hoffnung und dem Leben selbst gibt.

Für mich ist dieses wundervolle Buch eines der Bücher in 2015!
Chapeau Jocelyne Saucier ♥♥♥

„Die alten Leute wurden ihr wichtiger, als sie je gedacht hätte. Sie liebt ihre brüchigen Stimmen, ihre verlebten Gesichter, die langsamen Bewegungen, ihr Zögern, wenn ein Wort nicht einfiel oder eine Erinnerung sich nicht greifen lassen wollte. Die Fotografin liebte es, wie die Alten auf dem Strom ihrer Gedanken dahintrieben und manchmal mitten im Satz einschliefen. Das hohe Alter schien ein Hort der Freiheit zu sein, wo man sich keinen Zwängen mehr unterwirft und seinen Geist auf Wanderschaft schicken kann.“ (Seite 85/ 86)

5 von 5 Sternen

Ich danke dem Insel Verlag für das Leseexemplar.

 

Tragisch komische Liebeskomödie

Knaur TB Flexibler Einband 384 Seiten Erscheinungsdatum: 01.10.2015  Preis: 9,99 € ISBN: 9783426516522

Knaur TB
Flexibler Einband
384 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.10.2015
Preis: 9,99 €
ISBN: 9783426516522

Klappentext
Lenja liebt Benn. Das ist ein Naturgesetz. Dummerweise hat Ben sie gerade verlassen und plant, sich Ärzte ohne Grenzen anzuschließen. Aber Lenja weiß, wie sie ihn aufhalten kann: Sie schlüpft in die Rolle der sechsundsiebzigjährigen Karla und zieht in das Seniorenstift ein, in dem Ben arbeitet. Selbstverständlich hat sie sich auf ihre Rolle bestens vorbereitet –  nur nicht auf die charmante Schlitzohrigkeit ihrer neuen Mitbewohner. Die stehen ihr bald mit Rat und Tat zur Seite, denn auf die Waffen einer jungen Frau muss Lenja alias Karla ja leider verzichten …

∗∗∗∗∗

„Alles hat seinen Sinn und Platz im Universum. Keine Energie ging verloren. Es kam wie es kommen musste.“ (Pos. 67)

Lenja liebt Ben. Und Ben … liebt Lenja scheinbar nicht mehr, denn er hat sich von ihr getrennt. Doch sie muss schnell handeln, denn Ben möchte zu Ärzten ohne Grenzen. Als sie erfährt, dass er bis zur Abreise in dem Seniorenstift Schloss Winterfreude arbeiten wird, sieht sie ihrer Chance auf ein Liebescomeback. Als Kölner Drehbuchautorin schreibt sie sich mal eben die Rolle der sechsundsiebzigjährigen Karla auf den Leib.

„Weshalb verliebten wir uns in jemanden? Gab es die berühmte Liebe auf den ersten Blick? Macht uns Liebe tatsächlich blind, oder checkten wir >ihn< nicht vielmehr anhand einer vorgefertigten Liste von Eigenschaften ab, die >er< unserer Meinung nach besitzen soll? (…) Waren wir Frauen darauf gepolt, das Optimum bei unserer Partnerwahl rauszuholen? So wie in der Steinzeit, als sich die Neandertalerinnen alle um den größten und stärksten Mammutjäger geprügelt hatten?“ (Pos. 2027)

Mit Hilfe ihrer besten Freundin, die Maskenbildnerin ist, schafft Lenja es, sich als Karla in das Seniorenstift einzuschleusen. Doch der Alltag als Seniorin ist gar nicht so einfach. Die älteren Herren machen ihr den Hof, was Lenja nur von ihrem Plan abhält. Aber nicht nur die Herren berieten Problem, plötzlich gibt es Angriffe auf die „jüngeren“ Bewohnerinnen. Nun versucht sich Lenja auch noch als Detektivin. Und das Drama nimmt seinen Lauf …

„Heutzutage tut man ja gerade so, als ob Frauen, denen man ihre Lebenserfahrung ansieht, auf irgendeine Weise versagt hätten. Uns wird suggeriert, dass man für immer wie fünfundzwanzig aussehen könnte, wenn man sich nur genügend im Sportstudio abstrampelt und quält, wenn man nur streng genug fastet. So ein ausgemachter Blödsinn! Dabei ist Altern das Natürlichste auf der ganzen Welt. Wir leben nun mal nicht für immer.“ (Pos. 2430)

Ich habe schon einige Bücher von Michaela Grünig gelesen. Und was soll ich sagen, Michaela schafft es immer wieder und wieder mich aufs Neue zu verzaubern und zu verblüffen.

Diesen Roman habe ich innerhalb eines Tages verschlungen. Die Story um Lenja/ Karla ist so verrückt, lustig und spanenden, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte zu lesen. Michaela Grünig schafft einen Spannungsaufbau bis zum großen Finale und lässt dann die Bombe platzen, und wer denkt, er kennt das Ende wird sich eines Besseren belehren lassen müssen, denn bei Michaela Grünig kommt es immer ganz anders, als man denkt.

„Weißt du, ich kann das Gejammere über das Älterwerden nicht mehr hören. Mittvierziger heulen rum, weil sie ein paar Falten haben. Mittfünfzigjährige grämen sich, dass sie nach der Menopause ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen. Was soll das? Man wird jeden Tag ein bisschen älter, also ist das Hier und Heute in jedem Fall besser als das Morgen! Man sollte einfach jeden einzelnen Tag genießen. Jedes Alter hat auch seine wunderschönen Seiten.“ (Pos. 2457)

Und bei all der Tragikomik des Buches schneidet Michaela Grünig aber auch ein Thema unserer Zeit an … der Sucht nach ewiger Jugend und den daraus folgenden Schönheitsops. Ihr Appell an uns Frauen … nehmt euch so an wie ihr seid und genießt das Leben!!!

DANKE liebe Michaela ♥♥♥

5 von 5 Sternen

Ich bin hier

Verlag Antje Kunstmann Fester Einband  280 Seiten Erscheinungsdatum: 01.07.2015  Preis: 19,95 € ISBN: 9783956140532

Verlag Antje Kunstmann
Fester Einband
280 Seiten
Erscheinungsdatum:
01.07.2015
Preis: 19,95 €
ISBN: 9783956140532

Klappentext
Millie Bird ist sieben, als sie ihr erstes totes Ding findet, Rambo, ihren Hund. Von da an führt sie Buch über alles, was auf der Welt verloren geht. Darauf, dass sie auch  ihren Dad in ihr Buch der toten Dinge eintragen muss, war sie überhaupt nicht vorbereitet, und auch nicht darauf, dass ihre Mom im Kaufhaus nur kurz weggeht und nicht wiederkommt.
Karl ist siebenundachtzig, als sein Sohn ihn ins Altersheim bringt. Hier wird er nicht bleiben, denkt Karl, und kurz darauf haut er ab. Erst einmal ins Kaufhaus, bis sich etwas Besseres findet. Dort trifft er Millie.
Agatha Pantha ist zweiundachtzig und geht nicht mehr aus dem Haus, seit ihr Mann gestorben ist. Halb versteckt hinter Gardine und Efeu sitz sie am Küchenfenster und beschimpft Passanten. Bis das kleine Mädchen von gegenüber zurückkommt, allein …

∗∗∗∗∗

Dann führt sie ihre Gummistiefel spazieren. Hoch und runter auf der Rolltreppe, zuerst gehend, dann springend, hüpfend und winkend wie die Queen. Sie setzt sich oben an die Treppe und schaut zu, wie die Stufen sich selbst verschlucken. Was passiert, wenn die Stufen sich nicht rechtzeitig flach machen? Fragt sie ihre Gummistiefel. Sie stellt sich vor, wie die Stufen sich am Ende der Treppe stapeln und in die Gänge purzeln. Sie versucht mit jedem, der an ihr vorbeigeht, Blickkontakt herzustellen, und immer wenn es klappt, hüpft die Luft vor ihr auf und ab, wie bei den alten Filmen, die sich ihre Mum anschaut. Sie spielt Verstecken mit einem Jungen, der gar nicht merkt, dass er mitspielt. Als Millie ihm mitteilt, das sie ihn gefunden hat, fragt er sie als Antwort, warum ihr Haar so aussieht, und beschreibt mit dem Zeigefinger eine Spirale. Das sind Balletttänzerinnen, sagt sie. Abends springen sie von meinem Kopf und tanzen mir etwas vor.“ (Seite 14/ 15)

Als Millie Bird zum ersten Mal in ihrem Leben dem Tod begegnet ist sie sieben Jahre alt. Fortan führt sie eine Liste der toten Dinge. Eines Tages steht auch ihr Vater auf dieser Liste, aber Millie mag nicht daran denken, und blendet dies aus. Eines Tages geht sie mit ihrer Mutter in ein Kaufhaus. Millies Mum setzt sie in der Abteilung für Damenoberbekleidung ab und befiehlt Millie hier zu warten, bis sie wieder zurück kommt. Doch Millies Mum kommt nicht zurück. So verbringt Millie drei Tage und drei Nächte im Kaufhaus, bis sie entdeckt wird. Doch Millies einzige Sorge ist es, dass ihre Mutter sie nicht finden könnte. Sie flüchtet nach Hause, doch auch dort ist ihre Mutter nicht. Millie findet einen Hinweis darauf, wo ihre Mutter sein könnte und beschließt sie zu finden.

„Karl besaß weder einen Computer noch eine Schreibmaschine oder wenigstens eine Tastatur. Er tippte blind auf Mülltonnendeckel, in die Luft, auf die Köpfe kleiner Kinder, auf seine Beine. Fragen tippte er, bevor er sie stellte, nur um sicherzugehen, dass er sie tatsächlich stellen wollte. In der Verschwiegenheit seines eigenen Zuhauses, ehe er zu seinem Sohn gezogen war, hatte Karl Tastaturen auf Couchtische, Wände und Duschvorhänge gemalt. Er liebte die Bewegungen der Hände beim Tippen, den Tanz der Finger, die wie beim Square-Dance umeinander herumhüpften. Er hatte beobachtet, wie die Finger seiner Mutter, und später dann Evies, über die Tasten sprangen wie Wassertropfen auf heißem Asphalt, du er fand die gekrümmten Finger einer Frau beim Tippen ebenso elegant und erregend wie ihr Fußgewölbe oder ihren Nacken.“ (Seite 80)

Karl der Tastentipper trifft das erste Mal auf Millie im Kaufhaus. Er sitzt in der Cafeteria und trinkt seinen Kaffee, als Millie ihn anspricht. Millie ist fasziniert von dem immer zu tippenden Karl. Was keiner ahnt, Karl lebt zurzeit im Kaufhaus. Nach dem Tod seiner Frau hat Karl bei seinem Sohn gelebt. Doch dessen Ehefrau wollte Karl nicht in ihrem Haus haben. Also beschließt Karls Sohn, seinen Vater in einem Altersheim unterzubringen. Doch dort ist Karl so unglücklich, dass er nach ein paar Tagen abhaut. Er findet Zuflucht im Kaufhaus, wo er Millie kennen lernt.

„Sie hasst sich selbst, ihren Körper, und jetzt weint sie, Tränen rinnen über ihr Gesicht, und es ist erbärmlich, und sie ist eine alte alte alte traurige traurige traurige Frau, und sie hasst sich so sehr; mehr als alles andere ist es dieses Gefühl, das sie am deutlichsten spürt.“ (Seite 234)

Agatha Pantha hat seit dem Tod ihres Mannes vor sieben Jahren das Haus nicht mehr verlassen. Sie hat keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Lebensmittel bekommt sie einmal in der Woche geliefert. Dafür legt sie das Geld unter die Fußmatte. Ihren Alltag lebt sie nach der Uhrzeit. Jeder Tag hat den gleichen Ablauf zur gleichen Zeit. Sie sitzt unter anderem am Fenster und beschimpft die Passanten, die daran vorüber gehen. Eines Tages bemerkt sie, wie Millie, die gegenüber wohnt, ohne ihre Mum nach Hause kommt. Als Millie dann auch noch bei an der Tür klopft, gerät Agathas Leben aus den Fugen. Zuerst will sie nicht so recht etwas mit Millie und ihren Problemen zu tun haben, aber schließlich erklärt sie sich bereit Millie bei der Suche nach der Mutter zu unterstützen.

„Er war leer geworden, aber ohne die Erwartung, die etwas Leeres, zum Beispiel ein Blatt Papier oder eine Leinwand hervorruft; ohne das Staunen, die Hoffnung und die Angst, die Leere manchmal erzeugen kann. Er war einfach nur nichts. In der Welt der Satzzeichen hätte er ein Bindestrich sein können – frei schwebend, dazwischen, nicht unbedingt nötig.“ (Seite 95/ 96)

Wahnsinn, was für ein wunderschönes Buch!!! Diese Geschichte um Millie hat mich einfach nicht mehr losgelassen. Die einzelnen Charaktere sind zum Teil schon sehr schrullig. Aber genau das macht sie so liebenswert.

Da ist Millie, die mit ihren Gummistiefeln redet, und überall Schilder und Notizen für ihre Mutter mit der Aufschrift „Ich bin hier“ hinterlässt.

Da ist Karl, der immerzu tippen muss. Er liebt das Tippen und es beruhigt ihn. Für ihn ist das Tippen eine Konstante in seinem Leben, vor allem nach Evies Tod.
Dann ist da noch Agatha, die wohl schrägste Figur im Buch. Sie lebt nach der Uhr und wehe einer verstellt diese oder bringt sie aus ihren Rhythmus. Täglich vermisst sie ihren Körper, schreibt alles auf. Sie beschimpft Leute auf übelste ohne, dass diese ihr etwas getan haben.

„Wie wird man alt, ohne zuzulassen, dass es nur noch Traurigkeit gibt?“ (Seite 64)

In dieser eigentlich schönen Geschichte um Millie Bird geht es um ernste Themen. Dem Verlassen werde, dem Älter werden und dem Tod.

Es ist traurig zu lesen, wie Millie ihren Vater verliert, und dann die Mutter Millie zurück lässt, weil diese den Tod ihres Mannes nicht verkraften kann und vollkommen überfordert ist.

Es ist traurig zu lesen, wie Karl in ein Altenheim abgeschoben wird, nur weil er alt und unbequem ist.

Es ist traurig zu lesen, wie sehr Agatha unter dem Verlust ihres Mannes leidet und nicht mehr am Leben teilnehmen möchte und einfach nicht mehr das Haus verlässt.

Aber trotz all dieser traurigen Dinge gibt es auch die schönen Dinge in dem Buch. Millie findet Karl. Karl findet Millie. Millie findet Agatha. Agatha findet Millie. Karl findet Agatha und Agatha findet Karl. Und nicht nur das, Karl und Agatha finden noch einmal die Liebe und den Mut ein neues Leben zu beginnen. Und Millie? Ob Millie ihre Mutter findet, müsst ihr schon selber lesen ….

„Unter einigen Schwierigkeiten setzt sie sich auf den Boden und streckt die Beine vor sich aus. Karl macht unter ungefähr genauso großen Schwierigkeiten das Gleiche. Sie beugen sich einander entgegen, ihre Gesichter schweben aufeinander zu, bis sie ganz nah sind. Beide entdecken noch mehr Falten im Gesicht des anderen. Agatha bemerkt mehr Haare in seinen Ohren als angenommen. Karl bemerkt ein Haar an Agathas Kinn. Sie schließen die Augen und küssen sich.“ (Seite 264)

Unbedingt lesen ♥♥♥

5 von 5 Sternen

Erinnerungen

Dörlemann Fester Einband  256 Seiten Erscheinungsdatum: 28.01.2015  Preis: 14,99 € ISBN: 9783038200130

Dörlemann
Fester Einband
256 Seiten
Erscheinungsdatum:
28.01.2015
Preis: 14,99 €
ISBN: 9783038200130

Zum Buch
Nina Sergejewna verbringt winterliche Wochen im Jahr 1949 in einem Sanatorium für Künstler auf dem Lande. Hier ist alles auf Vergessen gestimmt. Doch sie will mehr über die Vergangenheit, über ihr eigenes Leid und das ihrer Mitmenschen erfahren.
Als sie Bilibin kennenlernt, der im gleichen Arbeitslager wie ihr Mann war, sucht sie seine Nähe. Es entspinnt sich eine zarte Zuneigung, doch enttäuscht wendet sie sich ab, als auch Bilibin nicht die Wahrheit, sondern das Verdrängen und Vergessen sucht.

∗∗∗∗∗

„Ich blieb stehen, warf den Kopf zurück: Mir schwindelte, als ich in diese gleichmäßig schwankenden Wipfel und die langsam kriechenden grauen aufgequollenen Wolken blickte. Die Wolken hatten sich so dicht zusammengezogen, als wären es dort oben, auf der himmlischen Erde, ganz hohe Schneewehen. Ich ging den Fußpfad immer weiter, trunken von den vorbeziehenden schwingenden grauweißen schlanken Stämmen, und ich empfand eine nagende Trauer, wie immer in den Augenblicken des entschiedenen Glücks …
All das wird mir wieder genommen werden. All das werde ich wieder hergeben müssen. Niemand Bestimmter wird es zurückverlangen, mur etwas Ungreifbares wird dann vorübergegangen sein, jenes Etwas, das wir >Zeit< nennen, (…).“ (Seite 15/16)

Nina Sergejewna verbringt einige Zeit im Winter 1949 in einem Sanatorium für Künstler. Offiziell arbeitet sie an einer Übersetzung, doch in Wirklichkeit will sie sich ihrer Vergangenheit stellen, schreibt ihre Träume und Gedanken in ein Tagebuch, dass sie „Untertauchen“ nennt. Sie lernt viele Künstler kennen, unter anderem den Schriftseller Nikolaj Bilibin kennen. Von ihm erfährt sie, dass er mit ihrem Mann zusammen in Gefangenschaft war.

„Heute habe ich meine Schuld erkannt. Im Traum. Ich lebe. Das ist es. Ich lebe, ich lebe immer noch, obwohl man ihn mit Knüppeln ins Wasser getrieben hat. Er kam für einen Augenblick, um mir das vorzuwerfen. Das zeigt der Traum.“ (Seite 35)

Nina und Bilibin nähern sich an. Nina möchte unbedingt mehr über das Leben und den Tod ihres Mannes erfahren. Doch anstatt der Wahrheit erzählt Bilibin ihr geschönte Geschichten. Enttäuscht wendet sich Nina ab und sucht Trost und Antworten bei Spaziergängen durch die verschneiten Birkenwälder.

„Als ich endlich auf dem Pfad zwischen den hohen üppigen Schneebergen gelangt war, blieb ich stehen und blickte mich um. Das  zerbrechliche Wort >swerkanje< kräuselte sich auf meinen Lippen. Wie genau entspricht es dem Muster der vereisten zweige! >Swerkanje<. Ein fragiles Wort, ein feines, scharfes Ästchen. Wie die winzigen grünen und blauen, unter den Birken im Schnee blitzenden Funken.“ (Seite 52)* Swerkanje: russ.Funken, Blitzen, Glitzern

„Untertauchen“ ist eine autobiografische Erzählung der Schriftstellerin Lydia Tschukowskaja, in der sie versucht das Erlebte zu verarbeiten. Unter Stalin wurde sie verfolgt und ihr Mann umgebracht.

Aber auch in späteren Jahren war Lydia Tschukowskaja auf der Flucht. In einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes beschreibt er das Leben und Wirken von Lydia Tschukowskaja, was für mich eine sehr interessante Information war.

1974  schloss man Lydia Tschukowskaja aus dem sowjetischen Schriftstellerverband aus. Kurz vorher hielt sie eine Rede, die man im Anhang nachlesen kann.

„Und ich dachte daran, wie das Alter mich verändert hat. Als Kind und in meiner Jugend war ich überzeugt, dass Gräber etwas Überflüssiges wären. Und jetzt – und jetzt glaube ich: Das Wichtigste in meinem Leben ist der Wunsch, Aljoschas Grab zu finden.“ (Seite 90)

Dieses Buch ist voller melancholischer Poesie und Abschiede. Aber es ist auch eine Geschichte die daran erinnert das Vergangene nicht zu vergessen. „Untertauchen“ erzählt die Geschichte der stalinistischen Ära. Sie veranschaulicht sehr deutlich wie sehr die Menschen unter Stalin gelitten haben.

Zu erwähnen ist auch auf jeden Fall das wunderschöne Cover und die Innengestaltung des Buches. Die weißen Birken auf blauem Grund und Lydia Tschukowskajas poetischen Beschreibungen über die winterlichen Wälder Russlands, lesen sich wie eine Liebeserklärung an den Winter in Russland.

Für mich ein Buch, das eine kleine feine Entdeckung ist, die gelesen werden sollte.

„Heute fand ich im Wald eine wunderbare Tanne. Wie war es möglich, dass ich sie nicht schon früher entdeckt habe! Majestätisch, mächtig steht sie in einem engen Rund aus Birken. Gefangen. In einer glückseligen Gefangenschaft. Ich lachte laut, als ich sie plötzlich sah. Die birken tanzen Reigen um die Tanne, wie kleine festlich gekleidete Mädchen. Ihr ganzes Leben lang feiern sie Weihnachten.“ (Seite 96)

4 von 5 Sternen